Tod eines Kaufmanns

„Sieben Uhr früh und alles in Ordnung!“, erschallte der Ruf des Hamburger Nachtwächters auch am Dienstag, den 8.November 1735. Nur der Bibliothekar Wilhelm Hansen war anderer Meinung. Nichts war in Ordnung, seit er auf dem Fußboden des Lesesaals der neuen Commerzbibliothek beim Entzünden der Öllampen einen Leichnam entdeckt hatte. Gegen halb acht schickte Hansen den erste Büroboten, der eintraf, gleich zur Wedde hinüber. Kaum eine halbe Stunde später klopfte ein Ermittler ans Tor. Als er eingelassen wurde, schüttelte er den Schnee vom Umhang, der draußen in dicken, lautlosen Flocken fiel, und streifte die Stiefel auf der Türmatte ab. Es würde ein trüber und windkalter Tag werden. Im Erdgeschoss herrschte der übliche Lärm und das Gewimmel von Menschen und Fuhrwerken, wie es an der Stadtwaage zu erwarten war. Es war unangenehm zugig, und durch die weit geöffnete Pforte wehten Schneeflocken herein. Die Öllampen an den Wänden wirkten auf den aus der Dunkelheit kommenden Ermittler beinahe grell. Der Mann von der Wedde blinzelte, dann stieg er die Treppe hinauf zu den Räumlichkeiten der Commerzdeputation, zu denen auch die Bibliothek gehörte und suchte Hansen an dessen Schreibpult auf. Hier oben war es erstaunlich still.
„Guten Tag, ich bin Johann Klaasen, Ermittler der Wedde. Ihr habt einen Leichnam entdeckt?“
Hansen nickte.
„So führt mich.“
Hansen stand auf, verbeugte sich und murmelte: „Euer Diener, Herr Klaasen.“ Dann nahm er seine Laterne mit und ging voran. Klaasen sah sich interessiert um. Er betrat diese Räumlichkeiten zum ersten Mal. Es war zugig im Lesesaal, obwohl in einem Kamin zu seiner Linken ein wärmendes Feuer prasselte. Hansen führte ihn zu einer Nische bei einem der hohen Fenster, in der ein Tisch und zwei Stühle mit hohen Lehnen standen. Dort blieb er stehen, drehte sich um und sah Klaasen stumm an. Der zog den linken Stuhl zurück und betrachtete den Toten, der dort lag, ohne ihn zunächst zu berühren. Die Leiche lag auf dem Bauch auf dem Fußboden zwischen Tisch und Fenster, mit den Füßen unter dem Tisch, das Gesicht von Klaasen abgewandt. Ein silberner Dolchknauf ragte aus seinem Rücken. Klaasen nahm alle Eindrücke in sich auf. Der Dolch war eine wertvolle Waffe. Wem mochte sie gehören?
Die Augen unverwandt auf die Leiche gerichtet, fragte Klaasen: „Habt Ihr die Lage des Toten verändert? Ihn angefasst?“
„Ich…“, setzte Hansen an, räusperte sich und fuhr dann fort: „Ich habe den Mann auf dem Boden liegend vorgefunden…“ Er schluckte in der Erinnerung an seinen Schock. „Er war schon eiskalt.“
Klaasen nickte. Er nahm die Laterne vom Tisch und beleuchtete das Gesicht des Toten. „Kommt her, schaut Euch den Mann einmal an. Vielleicht kennt Ihr ihn?“ Widerwillig beugte sich der Bibliothekar vor. Kaum jedoch hatte ihm der gelbliche Schein einen Blick auf die Züge des Leichnams gestattet, da prallte Hansen zurück.
„Das ist ja der Kaufmann Bartholomäus Wieck!“, entfuhr es ihm, und Klaasen bemerkte sein Entsetzen.
„Woher kennt Ihr den Kaufmann?“
„Seit der Eröffnung dieser Bibliothek war Herr Wieck mehrmals die Woche zugegen. Manchmal traf er hier auch Bekannte, besprach Geschäfte.“
„Kam Euch das nicht ungewöhnlich vor?“, fragte der Ermittler.
Hansen zuckte die Schultern. „Nein. Besser hier als im Dirnenhaus, wo, wie man munkelt, auch so mancher Geschäftsabschluss getätigt wird. Gestern hatte er ein lebhaftes Gespräch, wohl eher einen Streit.“
„Einen Streit? Mit wem?“
„Ich weiß nicht. Mir fielen nur erhobene Stimmen auf. Eine davon war die von Herrn Wieck, die andere kannte ich nicht…“
Klaasen dankte Hansen, verbot ihm, die Bibliothek heute zu öffnen, bevor der Leichnam fortgeschafft worden war und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Wiecks Kontor.
Dort war alles in hellster Aufregung. Klaasen wurde von besorgten Mitgliedern des Wieck’schen Handelshauses bestürmt. Der Herr Wieck sei gestern nicht nach Hause gekommen und jetzt, um neun Uhr, immer noch nicht im Kontor. Das sei doch gänzlich gegen seine Art. „Wo kann er nur sein?“, jammerte sein Schreiber, ein hagerer Mann mit eisgrauen Augenbrauen und Schläfen.
Endlich kam Klaasen zu Wort: „Ich fürchte, ich muss Euch eine traurige Mitteilung machen. Herr Schreiber, Ihr kommt am besten mit zur Commerzbibliothek, wo der Leichnam des Herrn Wieck heute früh gefunden wurde. Ihr müsst mir bestätigen, dass es Euer Herr ist, der dort liegt.“
„War es der Schlagfluss? Ich habe ihn immer vor den vielen Banketten gewarnt…“
„Nein. Er starb an einem Dolch in seinem Rücken.“, erklärte Klaasen trocken.
Der Schreiber bekreuzigte sich. „Der arme, gute Herr! Zu allen war er freundlich, und dann ein solches Ende…“
Eine Stunde später wurde Kaufmann Wieck nach Hause geschafft. Wiecks Schreiber hatte auch den Dolch erkannt. Es war Wiecks eigene Waffe. Der Schreiber erging sich in Klagereden: „So ein Unglück. Der arme Herr hatte so viel Pech in letzter Zeit. Zwei Schiffe sind dieses Jahr von den Piraten geentert worden. Beim ersten konnte Herr Wieck noch die Kaufmannstochter Anna Jensen auslösen. Vom zweiten ist nur ein Matrose entkommen. Herr Wieck musste Schulden beim Geldverleiher machen. Immer hat er sich für andere eingesetzt. Er war sogar der Vertreter der Commerzdeputation in der Bürgerschaft. Ach, was sollen wir nur ohne ihn anfangen…“
„Auf Anordnung der Wedde muss ich hier im Kontor alles genau examinieren.“
„Was hofft Ihr hier zu finden? Mein Herr hat sich nichts zu Schulden kommen lassen…“
Klaasen schob ihn hinaus und schloss die Tür. Dann blickte er sich in dem kleinen Gemach um. Ein mit Schnitzereien verziertes Stehpult stand links neben der Tür, gegenüber die Geldtruhe aus schwerem Eichenholz. Mit zwei Eisenstücken und vier faustgroßen Bolzen war sie am Boden festgeschraubt. Ein verschließbarer Tisch rechts neben der Tür vervollständigte die Ausstattung. Der Raum hatte keine Fenster. Es waren Kerzenhalter am Pult und am Tisch angebracht. Klaasen hatte dem Schreiber die Schlüssel abgenötigt und schaute nun in die im Tisch eingeschlossenen Kontobücher. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein. Bis er die Kontortruhe untersuchte und systematisch deren Inhalt ordnete. Zunächst fiel ihm auf, dass Wieck eine ungewöhnlich große Summe Bargeld in der Truhe hatte. Spanische Golddublonen, Lübecker Courantmark, alte Wendentaler und verschiedene Sorten Gulden lagerten dort in großen Mengen. Wenn der Kaufmann so viel Geld besaß, warum hatte er dann Kredit beim Geldverleiher aufnehmen müssen? Klaasen schickte einen Weddeknecht zum Wucherer, um nach der Summe der Schulden zu fragen. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass der Geldverleiher die Schuld für beglichen erklärte. Und die Summe war bedeutend! Dabei hatte der Kaufmann doch zwei Schiffe mit Handelsgütern an die Piraten verloren! Irgendetwas stimmte nicht. Er tastete an den Kanten des Pultes entlang, suchte das private Fach, vergeblich. Wütend schlug er auf die Tischplatte. Ein Federmechanismus öffnete ein Geheimfach in Wiecks Schreibtisch: darin lag das echte Kontobuch. Das allerdings wies deutlich darauf hin, was wirklich geschehen war.
Nun konnte er dem Praetor Bericht erstatten. Die Kontobücher nahm er mit, das Kontor ließ er von Weddeknechten bewachen.
Praetor Anckelmann empfing den Ermittler Klaasen nach seinem Mittagsschlaf. Aufmerksam wurde er erst, als er mehr über die Tatumstände erfuhr. „Was meint Ihr, was geschehen ist?“, fragte der Weddeherr neugierig.
„Euer Gnaden, Kaufmann Wieck hat heimlich Geschäfte mit ausländischen Spionen gemacht. Er hatte zwei Schiffe an die Piraten verloren, ist damals fast pleite gegangen. Dann hat er an holländische Interessenten Geschäftsgeheimnisse der Commerzdeputation verraten, als deren Vertreter er dem Stadtrat angehörte.“
„Soso. Der Zusammenschluss der ehrbaren Kaufleute in Hamburg?“, warf Anckelmann ein.
„Ja, Euer Gnaden. Für seinen Verrat bekam er regelmäßig große Beträge ausgezahlt. Im geheimen Kontobuch ist das gewissenhaft aufgezeichnet. Ich vermute, dass die Parteien diesmal in Streit über den Preis gerieten. Wieck wurde nämlich immer gieriger. Der Streit endete wohl damit, dass der Spion ihm seinen eigenen Dolch in den Rücken rammte.“ Klaasen breitete die Hände aus.
„Seid Ihr sicher?“ vergewisserte sich der Praetor. Einen Kaufmann von Wiecks Bedeutung in Hamburg beschuldigte man nicht leichtfertig, nicht einmal, wenn er tot war. Besonders nicht, wenn er tot war.
Klaasen nickte.
Anckelmann seufzte. „Dann werde ich mal mit Peter Voigt reden, dem Präsidenten der Commerzdeputation. Er hatte Wieck schon länger im Verdacht, unlautere Geschäfte zu tätigen. Es wird einen handfesten Skandal geben…“
„Was wird Wiecks Familie dazu sagen?“, fragte Klaasen.
Anckelmann zuckte die Schultern. „Wenn wir ihnen Machenschaften nachweisen können, dann kann die Familie froh sein, wenn sie nur das zu Unrecht erworbene Geld verliert! Lasst mir die Beweismittel hier. Ich lasse heute noch die Anklageschrift vorbereiten.“ Damit entließ er Klaasen und rief nach seinem Schreiber.