Licht in der Finsternis

Es war kein großer Wald, nur ein Stück Natur in einer zersiedelten Kulturlandschaft. Und ich brauchte Ruhe zum Nachdenken, nachdem mich mein Arzt mit der Diagnose Darmkrebs geradezu niedergeschmettert hatte. Ich würde bald operiert werden müssen. Mir war, als sollte ich ausgeweidet werden.
Am Nachmittag war ich hier gewesen und zuerst hatte ich den Spaziergang genossen. Doch jetzt wurde es langsam dunkel und ich schlug mich immer noch durch das Gehölz. Ich fand einfach nicht mehr hinaus, der Weg, auf dem ich mich befunden hatte, endete blind, und selbst als ich mich umschaute, waren um mich nur Bäume und Unterholz. Am Nachmittag war es trocken gewesen, doch an dem leisen Rauschen und den Tropfen, die mich durch die Finger der Bäume erreichten, musste ein leichter Schauer eingesetzt haben. Wind erhob sich und flüsterte in den Blättern, hielt Zwiesprache mit dem Regen in den Bäumen. Fröstelnd zog ich meine Windjacke enger um mich, rollte die dünne Haut der Kapuze über meinen Kopf. Ein unheimliches Heulen setzte ein, schwer zu sagen, woher es kam. Es schien den ganzen Wald zu füllen. Wölfe? Ungläubig runzelte ich die Stirn. Ich hatte noch nie gehört, dass sich hier ein Rudel dieser Tiere verirrt haben sollte. Bis es ganz dunkel war, musste ich hinausfinden aus dem Wald, nur die Bäume nahmen einfach kein Ende, in welche Richtung ich mich auch wandte. Die Vorstellung einer Nacht allein im Wald machte mir Angst, ja, inzwischen war ich so verzweifelt, dass ich am liebsten den Tränen des Himmel meine eigenen hinzugefügt hätte. Doch was würde das nützen?! Was sollte ich jetzt tun? Mich auf einen Baumstumpf setzen und warten? Auf ein sinnloses Ende im Wald?
„Steffi!“, schalt ich mich laut und streng. „Nimm dich zusammen und denk nach! Dann findest du hier auch raus!“
Das half. Laut und trotzig begann ich zu singen, irgendwas, das mich aufmunterte. Mein Verstand, der von Furcht umnebelt gewesen war, begann wieder zu arbeiten. Wahrscheinlich lief ich schon seit Stunden im Kreis. Ich würde also die Bäume markieren müssen, um mich besser orientieren zu können. Kurz entschlossen ging ich auf eine große Tanne zu und schälte mit meinem Taschenmesser ein kleines Stück von der dunklen Rinde ab. Es tat mir leid, den Baum verletzen zu müssen. Ich sah die Wunde hell im Dunkeln leuchten. Da erfasste mein Auge noch etwas anderes Helles, das durch die Bäume schimmerte. Noch bevor mein Verstand sich fragen konnte, was das war, nahm mein empfindendes Selbst Hilfeschreie wahr, die immer lauter in meinem Innern widerhallten, schmerzhaft an mir zerrten. Automatisch richtete sich mein Blick auf das, was dort durch das Unterholz schwamm, ein Wesen wie aus Mondlicht und Milch, das mit der Geschwindigkeit eines Gedankens an mir vorüberstürmte. „Hilf mir!“, gellte es in meinem Kopf und mein Herz schlug wild wie ein gefangener Vogel. Ich zitterte als würde ein Orkan mich schütteln, und blickte dem Wesen nach. Es schlug einen eleganten Bogen und lief dann zu mir, blieb zutraulich bei mir stehen. Sein Körper war der eines Pferdes, allerdings schlanker und kleiner, und er schien aus sich heraus zu leuchten. Seine Stirn war mit einem langen Horn geschmückt, doch ich fühlte mich nicht bedroht. Fasziniert betrachtete ich das Einhorn, konnte mich an seiner Schönheit nicht satt sehen, spürte ein Glücksempfinden, dass mir die Brust zu bersten drohte. Es stupste mich mit der Schnauze, senkte seinen Blick in meinen und in meinem Geist sprach es zu mir: „Rette mich. Die Schattenwölfe sind mir auf der Spur! Nur alle hundert Jahre ist es ihnen erlaubt zu jagen und einmal dürfen sie töten in dieser Nacht!“
„Wie…“, wollte ich fragen, doch blieb mir keine Zeit mehr zum Nachdenken. Sie kamen, schleichende Schatten, dreifacher Tod, Schemen mit glühenden Augen in der Finsternis. Mein Körper handelte entgegen meinem Instinkt. Schützend stellte ich mich vor das Einhorn, schirmte es mit meinem Leib, hielt es immer hinter mir.
„Geh aus dem Weg, Mensch!“, knurrte der erste Wolf. Ich konnte ihn in meinem Innern hören und ich erbebte vor Schrecken, doch ich gab meinen Posten nicht auf.
„Geht ihr fort, zurück in die finsteren Abgründe, aus denen ihr gekommen seid!“
Zur Antwort fletschte der Leitwolf drohend die gelb schimmernden Zähne, die lang und schrecklich spitz aussahen. Seine Gefährten taten es ihm nach. Während unseres Gespräches waren sie Schritt für Schritt näher geschlichen, versuchten, an mir vorbeizukommen. Aasgeruch und die Kälte des Todes waren ihre Begleiter. Die Schatten hinter dem Leitwolf schnappten drohend nach mir und funkelten mich böse an.
„So töten wir dich!“, grollte der Alphawolf und setzte zum Sprung an. Ich wich nicht aus. Drei Wölfe stürzten sich auf mich, warfen mich um wie die Druckwelle einer Explosion. Ihre Schnauzen gruben sich in das Innere meines Bauches, stießen so leicht vor, als wäre ich ein Geist. Sie begannen Fetzen aus meiner Seele zu reißen, zerrten an mir und knurrten einander böse an.
Ich fühlte keine Furcht vor dem Tod, auch kaum Schmerz, nur eine seltsame heitere Leichtigkeit, Zufriedenheit damit, dass mein Tod einen Sinn hatte. Ich würde dieses wunderbare Geschöpf hinter mir retten. Mein letzter Blick galt dem Einhorn, bevor ich in samtener Dunkelheit versank.
Als ich auf dem Waldboden liegend wieder zu mir kam, stand das Einhorn über mir und seine Tränen tropften auf meinen geschundenen Leib wie feuchter Tau. Mir war wohl und warm. Der Himmel über mir färbte sich graurosa. Ein neuer Tag begann.
„Danke!“, sprach das Einhorn. „Du hast dich für mich geopfert.“
„Wieso bin ich noch am Leben?“, fragte ich.
„Meine Tränen erwecken den Funken des Lebens erneut.“
„So danke ich dir. Wie konnte ich dich sehen?“
„Du warst in dieser besonderen Nacht in der Lage dazu.“
„Werde ich den Weg aus dem Wald finden können?“
„Die besondere Nacht ist vorüber und dein Weg wird wieder für dich sichtbar sein.“, antwortete das Lichtgeschöpf, weise und rätselhaft zugleich.
Dann schnappte es mit seinem Maul nach der eigenen Mähne und zog drei Haare heraus. „Die sind für dich. Drei Wünsche werden sie dir erfüllen. Und nun Lebewohl.“
Fasziniert blickte ich dem Wesen hinterher, wie es, schimmernd wie eine Perle und völlig lautlos, in dem Gewirr der Bäume verschwand, verschmolz mit dem Licht der aufgehenden Sonne.
Ich sank zurück in einen tiefen Schlaf und als ich erneut auf dem Waldboden erwachte, fühlte ich mich gekräftigt und seltsam getröstet. Ich lag am Rande eines Waldweges, der in die Richtung führte, in die das Einhorn vorhin gegangen war. War das alles wirklich geschehen? Im ersten Augenblick meinte ich, geträumt zu haben, doch dann spürte ich etwas Seidiges in meiner Hand: drei lange helle Haare, wie Spinnenweben so zart und so fest wie die Saiten einer Gitarre: drei Haare von der Mähne des Einhorns.