Maras Weg

Mara schmückte sich mit goldenen Spangen. Sie hüllte ihren Leib in die Schleier, die für sie an diesem besonderen Abend bereitgelegt worden waren, wie es der Tradition entsprach. Ihr Rücken blieb frei und ihre Tätowierungen kamen zur Geltung.
Sorgfältig und langsam fuhr sie mit dem Kamm durch ihr langes Haar, trank ab und zu einen Schluck von dem heißen Wein aus dem goldenen Pokal auf ihrem Frisiertisch.
Sie war allein. Von Eltern und Geschwistern hatte sie sich bereits gestern früh verabschiedet. Niemand durfte mehr zu ihr. Niemand, außer…
Bloß nicht daran denken! Noch nicht. Sie hatte ihr Schicksal selber gewählt. Freiwillig hatte sie es auf sich genommen, weil jemand das tun musste. Es gab kein Zurück mehr! Wenn die silbernen Strahlen der beiden Monde in ihr Gemach schienen, würde sie sich auf den Weg machen.
Aber war ihre Entscheidung richtig gewesen? Ihr Freund Tar hatte sie beschworen, mit ihm zu fliehen. Nicht zu tun, was sie vorhatte. Vergeblich!
Hatte er am Ende doch Recht gehabt? Hätte sie mit ihm gehen sollen, in ein fernes Land, eine unbekannte Zukunft? Warum hatte sie sein Anerbieten ausgeschlagen? O, es gab ein paar Gründe, das wusste sie selbst nur zu gut! Wäre sie gegangen, so hätte sie den Weg der Feiglinge genommen. Wie hätte sie damit weiterleben sollen? Nein, sie hatte die Aufgabe begonnen, nun musste sie sie auch zu Ende führen. Aber was würde sie erwarten?
Sie sank auf den weichen Hocker vor dem Spiegel, konnte aber der Mara auf der anderen Seite plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. Ihre Hände krallten sich in ihr Gesicht, sie unterdrückte das Seufzen nicht mehr, warme Feuchtigkeit netzte ihre Finger. Sie spürte die Berührung wie die einer Fremden, als hätte ihr Ebenbild hinter der polierten Oberfläche Maras Antlitz in ihren kühlen Händen. In ihrer Kehle klopfte es schmerzhaft und laut, sodass sie es deutlich zu hören vermeinte.
Sie biss sich in den Handballen. Dann schöpfte sie tief und langsam Atem, ein und aus – ein und aus. Und ihr Herz klopfte wieder ruhiger, Schwindel und Übelkeit vergingen. Durch den Fächer ihrer Finger blickte sie wieder in Richtung ihres Spiegelbildes, nahm aber nur den Schimmer der Monde wahr und bewunderte die Schönheit des metallenen Fluidums unter dem hohen Fenster. Niemals zuvor hatte sie bemerkt, wie viel Anmut sich in einem Mondstrahl verbarg.
Dieser Anblick aber erinnerte sie an den unerbittlichen Fluss der Zeit. Sie musste gehen.
Nur einen Moment noch blieb sie andächtig sitzen, sammelte ihre Kräfte. Sie wischte die Spuren ihrer Tränen fort und erhob sich mit einem Ruck, den Kopf stolz aufrecht. Den Rest des schweren Weines trank sie langsam und schluckweise, fühlte die warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabrinnen. In ihrem Kopf begann sie zu schweben, ihr Geist schwamm auf den Strahlen der Monde, sie folgte ihnen einen langen düsteren Gang entlang. Zarte Töne von Zimbeln und Glöckchen hüllten sie ein wie ein wehmütiger Gruß. Sie lauschte ihnen, schritt aber durch das Tor, ohne anzuhalten und ließ auch die Musik hinter sich. Und dennoch nahm sie das Klingen mit auf ihren Weg, es begleitete sie wie eine innere Melodie.
Das Pflaster des Hofes glänzte feucht, doch es war nicht kühl. Sie glitt hinaus in die Ebene vor der Burg, bis sie die magischen Bäume erreichte. Hier würde „ER“ sie holen. Niemand wusste, wohin die Frauen gingen, wenn das geschah. Nur, dass sie verschwanden, als hätten sie nie existiert. Und dass dieses Opfer jedes Jahr einmal erforderlich war.
Maras Beerdigung hatte bereits stattgefunden. Ihre Angehörigen würden um sie trauern, aber sie würden sie nicht suchen. Einmal noch blickte sie zurück zur Burg. Wie friedlich diese in nächtlicher Umarmung der Monde lag.
Stimmen begannen zu flüstern. Sie wandte sich um zum heiligen Hain, schwebte ihm entgegen. Wie süß es hier duftete! Hell leuchteten ihr Blüten entgegen, Blüten, die sich nur für sie geöffnet hatten, Kelche groß wie Lilien. Ihre weiße Schönheit war faszinierend, lockte, sie von Nahem zu betrachten. Das Flüstern wurde mit jedem Schritt lauter, formte Worte.
„Mara, komm zu uns…“, rauschte es in den Ästen. Sie hob den Kopf, verhielt ihre Schritte für einen Moment. Eine Blüte wuchs ihr entgegen, öffnete ihr ihr seidiges Inneres. Alle drängenden Fragen kamen zu einem Ende.
„Mara, folge deinen Schwestern…“
Und Mara folgte…