Weihnachtswünsche: Anna

Draußen war es noch dunkel. Zischend hielt der Greyhoundbus an einer Haltestelle mitten im Nirgendwo. Anna nahm ihre Tasche und stieg aus. Sie verließ die Zuflucht der vibrierenden Scheiben und verschlissenen Sitze nur ungern. Drinnen war kein Wind und sie hatte sich auf der Strecke aufgewärmt.
Die Gummilippen des Fahrzeugs schlossen sich hinter ihr, es hatte etwas Endgültiges. Das beruhigende Tuckern des Motors verwandelte sich in ein tiefes Röhren. Der Bus fuhr an und nahm das Licht, die Wärme und alle Geräusche mit.
Anna schaute den kleiner werdenden Lichtern der Scheiben hinterher. Ein Schauder überlief sie. Das kleine Haltestellenhäuschen sah nicht sehr einladend aus, doch sie lenkte ihre Schritte hinein. Es gab nichts anderes hier außer dem Wind, dessen leises Pfeifen sie wahrnahm und dessen kühlen Atem sie spürte als wäre er ein Tier, das sie fürchten müsste.
Der Bretterverschlag, in dem sie den Rest der Nacht warten musste, war dunkel. Es roch muffig und ein wenig nach Schnaps. Anna wusste, dass hier manchmal ein paar Leute feierten. Es war noch nicht lange her, da war sie selber mit dabei gewesen. Aber jetzt hoffte sie auf einen funktionierenden Kaffeeautomaten. Ein paar Münzen hatte sie noch, sie kramte in ihrer Jackentasche…
„Hallo“
Die Stimme klang tief, brüchig und rau, knarrte wie die Bretterbude. Anna hätte fast ihr Geldstück fallen gelassen. Wer war das?
Sie schaute sich suchend in dem Raum um, der mit kleinen Scheidewänden versehen war und sie immer an einen Stall erinnerte. In der spärlichen Beleuchtung konnte sie in der hintersten Ecke einen Stiefel erkennen, der hinter der Holzwand hervorlugte.
„Keine Angst“, klang es hohl und mit schwerer Zunge aus dem Dunkeln. „Ich bin nur der Weihnachtsmann. Hab hier ein wenig geschlafen…“
Anna trat unbewusst einen Schritt zurück. Ein Spinner! Auch das noch! Sie zitterte immer noch vor Schreck. War er gefährlich?
Mit Pennern kannte Anna sich aus, sie hatte selbst auf der Straße gelebt. Alle möglichen Verrückten waren ihr dabei begegnet und eines hatte sie gelernt: ihnen niemals zu widersprechen und mit ihnen zu reden war meist die beste Taktik. Fort konnte sie hier nicht, wohin auch? Also antwortete sie mit mühsam beherrschter Stimme: „Ich hab keine Angst“. Sie schluckte, atmete tief durch. „Wie kommst du hierher?“
„Ein paar nette Leute haben mich eingeladen“, knarrte die Stimme. „Wir haben Tee getrunken und Karten gespielt. Sie haben gelacht und gesagt, ich schulde ihnen fünf Dollar, aber die hatte ich nicht. Da haben sie Rudolf behalten. Dann bin ich müde geworden und eingeschlafen. Aufgewacht bin ich hier. Der Bus, der mich zurück in die Stadt gebracht hätte, war aber schon weg. – Komm doch her, mein Kind, und sag mir deinen Namen.“
Völlig durchgeknallt, aber nicht gefährlich. Langsam näherte sich Anna dem Stiefel. Er war tatsächlich rot, ebenso der Mantel – und eine Mütze in der gleichen Farbe hatte er auch auf dem Kopf. Allerdings saß sie schief wie das Lächeln in seinem bärtigen Gesicht. Erleichtert sah Anna die vielen Lachfalten und den Ausdruck von Gutmütigkeit darauf. Ein naiver alter Mann saß dort auf der rohen Holzbank.
„Ich bin Anna“, sagte sie sanft.
Der Typ hatte wohl den Santa gespielt und war mit dem Kostüm durchgebrannt. Vielleicht war es wärmer als seine übliche Kleidung. Und dann war er von anderen Typen abgezockt worden. Armer Kerl.
„Hast du denn Geld für den Bus, Weihnachtsmann?“
„Geld?“, fragte der Angesprochene verwundert. „Aber wer würde denn vom Weihnachtsmann Geld verlangen? Ich erfülle Wünsche, wenn mir jemand hilft…“
Das sagte er mit so viel Überzeugung, dass Anna sich fragte, wie sie ihm klar machen sollte, dass ohne Bezahlung kein Busfahrer ihn mitnehmen würde. Anna sah dem Alten zweifelnd ins Gesicht. War er wirklich so naiv? Vielleicht war er aus einem Heim ausgerissen?
Geistesabwesend kramte sie in ihrer Tasche. Fünf Dollar 40 hatte sie noch, sie gab sie ihm.
„Für dein Rentier!“
Im nächsten Moment ärgerte sie sich über sich selbst. Wie kam sie dazu, dem Typen ihr ganzes Geld zu geben?!
Er nahm die Münzen lächelnd entgegen und steckte sie in seine Manteltasche.
„Danke. Mein Kind, du siehst aus, als ob du selber Sorgen hast. Sprich dich ruhig aus, ich hätte zwar eigentlich viel zu tun, aber ich nehme mir Zeit für dich. Vielleicht finden wir zusammen einen Weg. Komm setz dich zu mir auf die Bank.“
Er machte eine einladende Handbewegung und seine Augen blickten sie freundlich an, fast weise. Anna zog misstrauisch die Brauen zusammen. Aber sie setzte sich. Seine Rumfahne war schwer zu ignorieren.
„Sprich, mein Kind. Anna, nicht wahr?“
Anna nickte.
„Hast du kein Zuhause, Anna? Morgen ist Weihnachten, da solltest du eines haben.“ Er sprach mit sanfter Stimme, wie ihr Großvater.
Sie seufzte leise. Der alte Mann konnte ihr zwar sicher nicht helfen, aber es tat ihr wahrscheinlich gut zu reden.
„Meine Eltern leben hier in der Nähe, aber ein Zuhause habe ich dort nicht mehr. Seit mein Vater arbeitslos geworden war, vor vielen Jahren, hat er nur noch rumgehangen. Und meine Mutter war jede Nacht unterwegs, immer mit anderen Typen.“
Der mitfühlende Blick des Alten tat ihr wohl, und so erzählte sie weiter: „Irgendwann hat die Polizei mich zuhause abgeholt. Bin dann in ein Heim gekommen, weit weg von zuhause und von meiner besten Freundin, Gloria. Ich konnte ihr nicht mal mehr Bescheid sagen. Verdammte Bullen! Was hatten die denn damit zu tun?!“
Anna blickte dem Alten ins Gesicht. Tränen rollten über ihre Wangen. Der Mann schwieg, sah sie nur an und hörte ihr zu, den Kopf schief gelegt.
„Im Heim ging es mir schlecht. Die anderen Kinder ärgerten und verprügelten mich ständig. Die Erzieherin hat nichts gemacht. Für die war ich nur ein Fall. Schließlich bin ich abgehauen von da. Seit ein paar Wochen bin ich nun auf Trebe. Ich will Weinachten in der Stadt verbringen, aus der ich komme. Ich hab mir das Geld für die Fahrkarte zusammengeschnorrt. Weihnachten ist das leicht.“
„Hast du niemanden, mit dem du gerne feiern würdest?“
„Ich wünschte, es könnte so sein wie früher. Aber das geht wohl nicht. Eine Freundin habe ich auch noch, sie hat mir manchmal emails geschrieben. Aber ich weiß nicht mehr, wo sie wohnt.“
Der alte Mann schloss die Augen und atmete tief durch. Kurz hatte Anna den Eindruck eines blauen Leuchtens. Ihr wurde warm ums Herz und sie wusste nicht, wieso.
„Geh in deine Heimatstadt, Kind. Du wirst deine Freundin dort treffen und kannst bei ihr feiern.“
„So’n Quatsch!“, schimpfte Anna. „Das ist unmöglich!“
Aber der Alte lächelte nur.
Die ersten Strahlen der Morgensonne schienen durch die schmutzigen Scheiben. Anna sah auf die Uhr an der Wand. Gleich 6, der Bus kam bald. Sie hatte zwar kein Geld mehr, aber die Fahrkarte steckte in ihrer Tasche.
Sie stand auf und streckte sich.
„Wohin willst du, Anna?“
„Raus, zum Bus.“
Der Alte strahlte.
„Ich komme mit“
Eine Staubwolke kündigte das Nahen des Fahrzeugs an. Anna stieg ein. Der Alte kletterte ihr hinterher, grüßte freundlich und wollte sich ebenfalls setzen.
„He, Fahrkarte zeigen oder bezahlen, Mister!“
„Aber ich bin der Weihnachtsmann...“, begann der alte Mann.
Der Busfahrer lachte.
„Ja, genau. Steig wieder aus, Alter, ich kann dich nicht mitnehmen!“
„Ich bin es wirklich!“, sagte der alte Mann. „Hast du einen Wunsch?“
„Junge, wenn ich das erzähle, halten mich alle für einen Spinner! Der Weihnachtsmann – in meinem Bus…Wo ist dein Rentierschlitten?“
Bevor der arme verwirrte Mann auch das noch erzählte, mischte Anna sich ein:
„Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Heute ist doch Weihnachten!“
„Kann ich nicht, und wenn gleichzeitig auch noch Ostern wäre. Ich hab meine Vorschriften!“
Anna wurde rot, sie wusste nicht, was ihr peinlicher war: mit so einem Irren unterwegs zu sein oder die unfreundliche Reaktion des Fahrers.
„Halt einfach ein Auto an, Santa“, riet Anna dem Alten. Das nennt man Trampen.“
„Davon habe ich schon mal gehört.“, strahlte dieser und sein gutmütiges Gesicht bekam tausend Falten. „Es nimmt mich bestimmt jemand mit.“
Anna zweifelte zwar nicht daran, machte sich aber doch Sorgen um ihn.
„Mach dir keine Gedanken, Anna. Hab ein Frohes Fest!“
Mit diesen Worten stieg er aus.
Der Fahrer schüttelte den Kopf und fuhr los.
„Frohe Weihnachten, Santa“, murmelte Anna, mehr zu sich selbst. Was für ein Spinner, aber er war nett zu ihr gewesen, hatte ihr zugehört und ihr Mut gemacht.
Tief in Gedanken, die Hände in ihren leeren Taschen vergraben, stieg sie an ihrer Haltestelle aus und ging durch immer noch vertraute Straßen. Die Geschäfte hatten noch nicht offen, nur ein Kiosk. Anna wusste, dass es dort Kaffee gab, vielleicht bekam sie einen umsonst heute. Auf jeden Fall war es warm da drin. Sie betrat das Häuschen und musste ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnen. Erinnerungen stürmten auf sie ein, an fröhliche Freunde und unbeschwerte Zeiten, und sie fühlte sowohl das Glück von damals als auch den Schmerz des Verlustes.
„Anna?“, fragte eine sehr vertraute Stimme. Anna erschrak.
Sie musste schlucken, bevor sie antworten konnte: „Gloria?“
Ohne weitere Worte fielen sich die Freundinnen in die Arme.
„Komm mit zu mir nachhause“, lud Gloria sie mit erstickter Stimme ein. „Meine Eltern werden sich freuen…“
„Was machst du heute hier?“, brachte Anna mühsam hervor. Sie konnte es immer noch nicht glauben.
„Ich habe von dir geträumt und heute Morgen hat mich ein komisches Gefühl hierher getrieben. Als ob ich verabredet wäre und nur vergessen hätte, mit wem…“
Anna musste an den sonderbaren Alten denken und was er ihr gesagt hatte.
„Danke, Weihnachtsmann!“, flüsterte sie – obwohl sie wusste, dass das Unsinn war.