Zeitlose

Als die letzten Sonnenstrahlen des Sommers auf sie fielen verspürte sie ein Gefühl, dass sie beinahe vergessen hatte. Die Hektik des Bahnhofs die sie umgab verstummte und wurde zu einer angenehmen Stille, welche sich an sie schmiegte.
Wie ihr Innerstes, vibrierte die Luft sanft um sie.
Wärme ausstrahlend breitete sich dieses Gefühl in ihr und um sie aus.
Sie spürte wie es sie durchdrang und von ihr Besitz ergriff. Sie fühlte sich leicht, wie der Wind der kaum spürbar an ihr vorbei zog und verlor jedwedes Zeitgefühl. Minuten zogen an ihr vorbei wie Sekunden, Stunden wie Minuten.
Und doch blieb die Zeit für sie stehen, mochten auch die Uhrzeiger ihre festgelegten Bahnen fliegen.
Ihre Zeit stand still, hatte jede Bedeutung verloren.

Verträumt im Genuss dieses Augenblickes verweilend nahm sie wahr, wie der Alltag den sie so gut zu kennen glaubte, in einem vollkommen neuen Licht seinen geregelten Lauf ging. Nichts schien sich daran von jedem anderen Tag zu unterscheiden, nichts außer ihr.
Es hatte sich nichts erkennbares verändert. Sie sah Menschen, die jeden Tag an ihr vorbei liefen, manchmal ohne einmal Notiz von ihr genommen zu haben. Gesichter, die sie jeden Tag ohne besonderes Interesse erblickte, betrachtete sie nun mit Neugier und ansteigender Bewunderung.

Im Gesicht einer Frau, die sie jeden Tag auf ihrem Weg zur Arbeit sah und stets für sehr ernst und steif gehalten hatte, entdeckte sie sanfte Lachfältchen. Sie sah, dass sie sanft und kaum merklich lächelte und mit den Händen an ihrer Seite wie bei einem Klavierspiel ihre Finger über imaginäre Tasten gleiten ließ. Die Frau im langen Trenchcoat schien ihrem eigenen inneren Klavierkonzert zu folgen und sich an diesem zu erfreuen.

Sie hatte sich nie vorstellen können, dass diese Frau, die auf den ersten Blick so ernst und steif aussah, solch zarte Schönheit in sich verbarg.
Doch wie hätte sie sie auch zuvor wahrnehmen sollen? Wie hätte sie so zarte Nuancen erblicken können, wenn sie sich doch nie die Zeit genommen hatte die Menschen zu betrachten und über den Oberflächlichen Eindruck hinaus Interesse an ihnen zu zeigen.
Selten hatte sie ihren Blick schweifen und auf jemandem ruhen lassen, der es verdient hätte von ihr betrachtet zu werden. Und wie oft hatte sie Leute aus purem Trotz angestarrt, nur weil diese nicht aufhörten ihre Blicke auf sie zu warfen?

In diesem Moment verstand sie, wie viel ihr Tag für Tag entgangen war. Sie verstand dass der Tag mehr darbot als den bloßen Alltag, mit seinen immer währenden sich wiederholenden bedeutungslosen Gesten.
Sie ahnte, was sie noch entdecken konnte, wenn sie sich nur darauf einließ, sich Zeit zu nehmen die Kleinigkeiten und Nuancen wahrzunehmen und statt Stunden zu verleben, Sekunden erleben zu können. Ihr gefiel der Gedanke den Tagen mehr als nur das monotone Verstreichen der Zeit abgewinnen zu können und fortan immer wieder Momente wie diesen zu genießen.
Sie nahm sich vor genauer auf die Leute zu achten, die sie immer wieder umgaben, sie besser kennen zu lernen.
Sie wollte mehr auf die Kleinigkeiten achten, die sie voneinander unterschieden anstatt auf Gemeinsamkeiten zu achten, welche sie einfach nur besser kategorisierbar machten.

Sie überlegte sich ein Spiel, um Spaß an ihrer neuen Umsicht zu haben.
Anstatt sich an die Leute, die sie täglich sah anhand von Oberflächlichkeiten zu erinnern, wollte sie mit der Zeit kaum bemerkbare, dafür jedoch unverkennbare Eigenheiten der Leute kennen lernen.
Sie wollte schauen ob man nicht bei jedem Menschen liebenswerte kleine Details beobachten konnte, die vielleicht nur für Bruchteile von Sekunden zu sehen und nur zu bemerken waren, wenn man sich wirklich Zeit nahm, sich darauf einzulassen.

Ihr gefiel der Gedanke statt eines dunkelhaarigen Mitvierzigers durchschnittlicher Größe und Statur zukünftig den Mann zu sehen, der jedes Mal wenn er niesen muss das Linke Bein reflexartig hebt und den Anschein macht nach Links zu stolpern wenn er das tut, ohne jedoch je das Gleichgewicht dabei zu verlieren.

Statt einer jugendlichen Punkerin mit auffälliger Kleidung, zukünftig eine Frau zu sehen, die jedes mal, ihre Haare hinter ihr Ohr streicht und verstohlen zu Boden schaut wenn ein Mann der im Kaffeeshop gegenüber des Bahnhofs arbeitet vorbeigeht.

Oder aber einen jungen Mann zu sehen, der wenn es auch durch seine Kopfhörer so aussehen mag, als würde er Musik hören, nur dadurch der Peinlichkeit entgehen will auf eine Anfrage eines Fremden reagieren zu müssen und dies nicht zu können, da er Gehörlos ist.

Als sie über das, was sie sich gerade vor Augen hielt sinnierte, dachte sie, dass sie wohl nicht richtig ticken würde. Sie fand es lustig und dachte, dass wohl irgend etwas mit ihr nicht stimmen könnte, womit sie durchaus recht hatte.
Würde sie richtig ticken, dann wäre sie jetzt nicht in dieser Situation und sie hätte diesen Moment nie so erlebt wie sie es tat. Würde sie richtig ticken, hätte man sie schließlich nie reparieren müssen und die Uhr von der diese Geschichte handelt hätte selber nie Zeit gehabt über wirklich wichtige Dinge des Lebens nachzudenken.