Barfuß im Schnee

Barfuß im Schnee. Weich wie Watte war es anfangs, doch jetzt spürte sie Ihre Füße schon lange nicht mehr. Der Kimono wehte im eisigen Wind, ihr Gesicht fühlte sich so taubgefroren an wie die Plastikmaske die sie trug. "Das Schwert ein bisschen höher, Blick direkt in die Kamera, sehr gut, aber nicht so zittern bitte." Immer die gleichen Anweisungen von Oliver dem angeblichen Starfotografen. Seit gefühlten Stunden ging das so. Die Frage nach einer kurzen Pause, einer warmen Jacke und dicken Stiefeln war jedesmal barsch zurück gewiesen worden. "Gut wir machen jetzt den Gegenschuß, bleibt da stehen Rebekka. Nein, noch keine Pause. Kamera eins hinter das Modell und auf den Oliver. Kamera zwei Oli im Profil. Wir machen Drehfertig!" Dieser Regieseur kannte ebenfalls kein Erbarmen. Rebekka schlotterte und offenbar gefiel es ihnen sie zu quälen. Die anderen waren doch viel schneller fertig. "Nicht so zittern, das brauchen wir jetzt nicht. Und bitte." Wieder ging alles von vorne los, die Anweisungen, die Posen und der Kampf gegen den vibrirenden Körper. Was hatten die von der Model-Casting-Show nicht alles versprochen. Tolle Location, Traumurlaub, viel Spaß, Sonne, weiße Strände. Jetzt standen sie hier im Harz irgendwo bei den Rabenklippen. Eine halbe Stunde zu Fuß war das Café noch entfernt, dort hatte sich das Produktionsteam eingerichtet. Da saßen die anderen jetzt noch im warmen, am lodernden Kamin. Endlich erlöste die Stylistin Rebekka mit Jacke, Stiefeln und Wärmepads aus ihrer Froststarre. Nun war Luisa als letzte an der Reihe.

Endlich im warmen, heißer Tee, langsam kam Gefühl in Hände, Füße und Nase. Langsam tauten auch die Gefühle wieder auf und Wut stieg hoch. "Oli hat mich doch extra so lange stehen lassen." Sie wollte ihm nachher die Meinung sagen. "Dann schmeißt er dich raus, das weißt du." belehrte eins der anderen Mädels. Ja, das wußte sie und schwieg. Der Rest des Teams kam, sie waren schon fertig, war ja klar. Nur Oli fehlte. Schnell schlüpfte Rebekka hinaus. Oli stand rauchend auf den Klippen. Als sie bei ihm war, sah er sie an und grinste. Ein kurzer Schrei,ein dumpfes aufschlagen seines Körpers im Schnee, dann war es still.

Die Scheinwerfer blendeten grell, der Applaus toste. Ihre ganze Familie saß in gelben T-Shirts mit der Aufschrift Rebekka im Publikum und schwenkte Transparente. "Und die Nummer drei im Finale von Super-Model-Casting, unsere Frostbeule im Schnee, Rebekka!" Der Applaus donnerte. Da war sie wieder die Erinnerung an diesen grausigen Tag, den dumpfen Aufprall, die unendliche Stille danach, die klare Sicht auf den Brocken, den blauen Himmel. Nein! Sie hatte ihn doch nicht gestossen. Ausgeruscht war er auf dem vereisten Plateau, unter dem Geländer hindurchgesaust. Grinsend im Gipskorsett rollte Oli hinter den Models ins Studio. Mit der linken Hand steuerte er souverän den elektrischen Rollstuhl. Der Applaus toste auf, standing ouvations. Doch mit der Fotografie war es vorbei, der rechte Arm zertrümmert. Während sich der Linke beim reflexartigen Versuch sich abzufangen in Schnee und Waldboden bohrte, konnte der andere dem Fels nicht standhalten. Die Ärtzte konnten ihn nicht flicken. Einer spottete noch in feinstem sächsisch: "ßu DäDäÄR-Zäiten, dor gobs eene Pragtiga die konnte mon och mit links auslösen. Wär zu spät gommt dän bestroft halt däs Läbn!"

Rebekka blickte nun mit Genugtung auf diese weiße rollende Mumie. Wie üblich begann das Finale mit dem Cover-Shooting. Posen vor grauer Wand. Die Abendkleider waren weit. Im Wind des Ventilators gab der lange Schlitz den Blick auf die netzbestrumpften Beine frei. Oli manövrierte sich an seinen Arbeitstisch. Wenn jemand glaubte er würde aufgeben, dann sah er sich jetzt getäuscht. Ein Laptop, einen Fernauslöser und seinen Assitenten, mehr brauchte die Mumie nicht. Rebekka stellte sich posingsicher ins Scheinwerferlicht. Die Walther aus der Requisiete entschlossen in der Hand. "Dies ist das Finale, ihr seit die letzten drei aus tausend Mädchen. Aber nur eine..." Ja, ja und wir müssen Gas geben, ging es Rebekka durch den Kopf. Und sie würde es jetzt tun. Ein für alle mal. Oli griff zum Auslöser. Zweimal zerriss ein ohrenbeträubender Knall die Spannung im Studio. Stille, da war sie wieder diese endlose Stille. Langsam quoll dunkeles rot aus dem weißen Gipskorsett. Die Kugel hatte getroffen, mitten ins Herz.

Erst als die anderen Mädchen schützend auf sie zu stürzten spürte Rebekka den Schmerz im linken Arm. Oli's Schuß aus der präparierten Kamera hatte sie gestreift. Er hatte sie tatsächlich... Nacht schlich über Gedanken und Augen. "Bekki, Bekki wach auf!" Eines der Mädchen tätschälte ihre Wange. Langsam kam sie wieder zu sich. "Der wollte dich umbringen, der wollte dich wirklich umbringen!" Noch in Schockstarre blickte sie auf Andi, den Assitenten. Mit gesenktem Kopf ließ er sich widerstandslos von der Security festhalten, seine Waffe war ihm aus der Hand geglitten. Langsam hob er den Kopf und ihre Blicke trafen sich. "Ich hab dir das Leben gerettet, Bekki!" Tatsächlich hatte Andi die als Kamera getarnte Waffe daneben zielen lassen, nur hatte sich Rebekka zu viel bewegt. Unbemerkt hatte Andi unter seinem T-Shirt eine zweite Waffe ins Studio geschmuggelt. All' die Jahre hatte Oli ihn gedemütigt. Die ganze Arbeit hatte doch er, Andi gemacht. Der selbsternannte Starfotograf Oli drückte dann nur noch den Auslöser und bekam den Ruhm. Nun sollte jeder sehen wer der Star war. Mit aller Gewalt riß sich Andi los und stürmte auf den sterbenden Oli zu. "Es waren meine Fotos, immer meine! Ich habe die Arbeit gemacht, alles, alles!" Dann griffen die Securities wieder zu und drängten ihn aus dem Studio. "Ich bin der Starfotograf! Ich, Oli!"