Bernie

Michael Busch döste auf seiner Terrasse im Liegestuhl vor sich hin. Gerade hatte er den Rasen gemäht. Die Junisonne schien warm von einem beinahe wolkenlosen Himmel. Michael schob sich in eine bequemere Position zurecht und seufzte. In einer halben Stunde würde er mit Bernie spazieren gehen, seinem Berner Sennehund, der ihm ein treuer Begleiter war. Eben, als Michael es sich bequem gemacht hatte, lag Bernie auf seiner Matte im Schatten, erschöpft von den Versuchen, den Rasenmäher mit seinem Gebell zu übertönen und diesen und sein Herrchen zu umspringen. Michael lächelte, als er daran dachte.
Mitten in seine in leichte Träume übergehenden Gedanken mischte sich plötzlich das schmerzvolle Jaulen eines Hundes. Michael fuhr aus seiner Liege auf. Ein Blick zur Hundematte – leer. Michael sprang auf.
„Bernie!“, rief er laut.
Das anhaltende Gejaule jagte Michael eine Gänsehaut über den Rücken. Er rannte auf den Zaun zum Nachbargrundstück zu. Das Fiepen und Wehklagen des Hundes wurde lauter und Michael war sicher, dass es Bernies Stimme war, die da ertönte. Und richtig – als er einen Blick über die Grundstücksgrenze warf, sah er Bernie mitten auf dem Rasen der Krögers wie wild hin und herspringen. Irgendetwas schien ihn an eine bestimmte Stelle zu bannen, die Schnauze an seinem an den Leib gezogenen rechten Vorderlauf.
„Bernie!“, rief Michael angstvoll. Sofort drehte sich der Hund zu ihm hin und blickte auf, abwechselnd winselnd und jaulend. Seine Schnauze war voller Blut und eine Kette hing von seiner Pfote herunter. Der Hund machte einen hinkenden Schritt in Michaels Richtung, blieb stehen. Jetzt sah Michael, dass sich um Bernies rechte Pfote etwas Gezacktes geschlossen hatte. Michael überlief es glühend heiß: ein Fangeisen! Und Herr Kröger war Jäger! Entschlossen stieg er über die Grundstücksgrenze und eilte auf Bernie zu.
„Zeig mal her, das haben wir gleich!“, sagte Michael mit zitternder Stimme. Ihm war, als fiele ein Stein durch seinen Magen, als er die Verletzung genauer betrachtete. Der Vorderlauf war kurz oberhalb der Pfote gebrochen und es war ein offener Bruch: weiß und spitz standen Knochenenden aus der blutigen Wunde. Übelkeit stieg ihm brennend in die Kehle. Einen Moment lang war ihm schwindelig. Dann überkamen ihn Angst um Bernie und Wut auf Herrn Kröger, der zweifellos die Falle gelegt hatte. Michael versuchte, die Falle mit den Händen auseinander zu ziehen, doch war der Mechanismus zu stark für ihn. Der arme Bernie jaulte erbärmlich bei diesen Befreiungsversuchen, wehrte sich aber nicht. Verzweifelt rannte Michael zur Haustür der Krögers und klingelte Sturm.
In letzter Zeit hatte es wegen Bernie immer wieder Ärger gegeben. Einmal war der Hund über den Zaun gesprungen, auf der Jagd nach einer Krähe, mitten in Frau Krögers Tulpenbeet. Dann war Bernie von Herrn Krögers Jagdhund angeknurrt worden und die beiden Rüden mussten zurückgehalten werden. Bei der nächsten Begegnung der beiden Hunde war der Jagdhund ausgewichen. Das hatte Herr Kröger als ehrenrührig empfunden. Dafür war Herrn Krögers Jagdleidenschaft für Michael legalisierter Mord an Mitgeschöpfen.
Herr Kröger öffnete nicht, aber Michael schrie seine Anklagen außer sich vor Wut laut heraus: „Mach auf, du Schwein! Du verdammter Tierquäler! Mein Bernie steckt mit der Pfote in der Falle fest, die du gelegt hast! Ich wünschte, du wärst selber reingetreten, dann hätte es wenigstens den Richtigen erwischt! Zeig mir, wie die Falle aufgeht!“
Dabei hämmerte er an die Haustür des Nachbarn. In dessen Haus blieb es aber still.
„Ich trete dir die Tür ein, du Scheißkerl! Wenn ich dich finde, dann mach ich dich alle!“
Es rührte sich nichts. Kröger schien wirklich nicht zu hause zu sein. Von dem war keine Hilfe zu erwarten.
Bernies Klagelaute schnitten Michael in die Seele.
Er lief zurück zu Bernie und streichelte seinem Hund über das weiche Fell: „Ich bin gleich wieder bei dir.“, sagte er, dann stieg er eiligst über den Zaun, um das erforderliche Werkzeug herbei zu schaffen.
In fliegender Hast durchsuchte er seine Garage nach etwas Geeignetem, um die Eisenklauen auseinander zu stemmen. Mit einem Kuhfuß und einem Bolzenschneider rannte er zurück zum nachbarlichen Grundstück. „Ich komme, Bernie, gleich bist du frei!“, rief er im Näherkommen. Doch hinter dem Zaun war kein Bernie mehr zu sehen. Fassungslos ließ er das Werkzeug fallen.
„Bernie!“, schrie Michael. War der Hund selber freigekommen? War er fortgelaufen? Michael verschwendete keine weitere Zeit, er lief den Weg herunter und rief nach seinem Hund. Eine halbe Stunde lang suchte er die ganze Gegend ab, mit zunehmender Verzweiflung. Doch keine Spur von Bernie. Schließlich kehrte er nach Hause zurück. Vielleicht wartete Bernie ja dort auf ihn. Doch diese Hoffnung zerstob, sobald er sein verlassenes Grundstück sah.
Gedämpftes Jaulen war zu hören. Es kam aus Herrn Krögers Garage. Michael zögerte nicht: Wieder überstieg er den Zaun und marschierte voller Wut auf das geschlossene Garagentor zu. Er hämmerte dagegen, schrie in seinem Zorn laut: „Kröger, mach auf! Gib meinen Hund heraus!“
Der Nachbar schaute aus einem der oberen Fenster in den Garten und rief wütend zurück: „Ihr Hund ist nicht bei mir. Was haben Sie auf meinem Grundstück zu schaffen?!“
„Ich höre Bernie doch jaulen! Aus deiner Garage!“
„Mein Hund hat gerade ein paar Wespen ausgegraben und ist gestochen worden.“
„Das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe! Mach sofort auf!“
„Verschwinden Sie von meinem Grundstück, oder ich hole die Polizei!“
„Polizei, das ist eine gute Idee! Wenn du mir nicht augenblicklich die Garage öffnest, damit ich nachschauen kann, ob das mein Hund ist, der da so jault, wird dich die Polizei dazu zwingen!“
„Machen Sie doch, was Sie wollen! Aber verlassen Sie sofort meinen Grund und Boden!“
Michael ballte die Fäuste, dann aber kehrte er zurück in sein Haus und rief die Polizei. Als er wieder in den Garten ging, war es auf einmal totenstill. Das Jaulen hatte aufgehört. Voller Sorge erwartete er die Polizisten.
Nach 20 Minuten trafen diese ein. Kaum hatte Michael sie gesehen, riss er schon seine Gartentür auf und lief zu den Beamten herüber.
„Machen Sie schnell! In Krögers Garage ist mein Hund! Bevor dieser Tiermörder alles beseitigen kann. Helfen Sie mir bitte, schnell!“, schrie er und wollte schon voran laufen.
Die Polizisten hielten ihn auf. „Ich bin Polizeimeister Brand. Wir können gleich zu Ihrem Nachbarn gehen. Erzählen Sie aber bitte erst, was vorgefallen ist.“
Aufgebracht schilderte er ihnen den bisherigen Verlauf der Ereignisse. „Es ist ganz ruhig jetzt. Ich fürchte, Bernie lebt nicht mehr!“
„Gut, wir werden mit Herrn Kröger reden.“, sagte Polizeimeister Brand in ruhigem Ton. Die Beamten gingen zum Tor der Krögers. Michael schloss sich ihnen an. „Beruhigen Sie sich erst einmal. Wir kümmern uns jetzt darum“, sagte Herr Brand und schob Michael hinter sich.
Die Polizisten klingelten.
„Ja? Wer ist da?“, fragte es blechern aus der Gegensprechanlage.
„Polizei! Wir würden gerne mit Ihnen reden. Uns liegt die Beschwerde eines Nachbarn vor!“
Der Summer an Krögers Tür gab die Gartenpforte frei. Zu dritt betraten sie den Gartenweg.
„Zur Garage geht es da entlang!“, drängte Michael. Die Ungewissheit war schlimmer für ihn als die grausigste Gewissheit. Gleich würde er wissen, was mit Bernie geschehen war. Und die Polizei ebenso. Und wenn Bernie nicht mehr am Leben war, dann würde er den Mistkerl anzeigen!
Herr Kröger öffnete sein Garagentor und blickte Michael dabei feindselig an. „Schauen Sie doch nach, der Hund von Herrn Busch ist nicht hier!“
Sie warfen einen Blick in den weiß gestrichenen Raum. Michael wurde schlecht: Der ganze Boden der Garage war mit Blutflecken bedeckt.
„Was hast du Schwein mit meinem Hund gemacht?!“, schrie Michael, außer sich vor Schmerz und Wut. Wenn die Polizisten ihn nicht zurückgehalten hätten, hätte er sich mit erhobenen Fäusten auf Kröger geworfen.
Eine Stunde später hatten die Polizisten Fotos gemacht und Beweise gesichert. Weder von Bernie noch von der Falle war eine Spur zu finden. Michael ging mit aufs Revier und beschrieb das Fangeisen. Es wurde als Fuchsfalle identifiziert, als sogenanntes Tellereisen.
„Die sind in Deutschland schon lange verboten!“, klärte ihn der Polizist auf, der seine Aussage aufnahm. „Auf die Tötung oder das Quälen eines Wirbeltiers stehen bis zu 3 Jahre Gefängnis. Dazu kommt die Aufstellung eines verbotenen Tellereisens. Ihr Nachbar kann sich auf einigen Ärger gefasst machen.“