Plötzlich und unerwartet

„Probier doch mal die wundervolle Marmelade, die Susan uns geschenkt hat“, lockte Mortimer Gregory seine Frau und lächelte.
Sarah betrachtete ihren Gatten misstrauisch. Was hatte er vor? Hielt er sie für so dumm? Als ob sie nicht wüsste, dass Susan, die Nachbarin, seine Geliebte war. Wenn dieses Luder ihr etwas schickte und Mortimer es lobte, dann war Vorsicht angeraten.
„Nachher koste ich davon“, antwortete sie honigsüß. „Wir können ja beide davon essen.“
Warum erbleichte er? Sie hatte also recht mit ihrem Argwohn. Vor Kurzem hatten ihre Eltern ihr eine Menge Geld hinterlassen. Sarah wusste, dass ihr Mann dieses Erbe gerne mit Susan verprassen würde. Ohne sie, versteht sich. Als trauernder Witwer. Sarah lächelte. So leicht würde sie es ihm nicht machen. Mortimer war Arzt, er konnte sie leicht vergiften und es wie einen Unfall aussehen lassen. Oder zufällig eine Ladung Schwarzpulver hochgehen lassen. Er beschäftigte sich in seiner Freizeit nämlich mit antiken Waffen und hatte ihr letzte Woche gerade eine feurige Überraschung bereitet.
Es war nicht einfach, den zahllosen Fallen aus dem Wege zu gehen. Was das anging, war Mortimer sehr erfinderisch. Aber auch Sarah wollte Witwe werden. Es fragte sich nur, wer schneller war. Seine Lebensversicherung würde sich lohnen. Leider war Mortimer von unerschütterlicher Gesundheit und hatte sowohl die Mausefalle mit Schlangengift in seinen Lieblingspantoffeln als auch die Pilzsuppe von letzter Woche überlebt. Trotz der Extraportion Satanspilz, mit der sie seinen Teller abgerieben hatte. Angeblich hätte man damit einen Elefanten erledigen können! Leider war auf die Tipps im Internet auch nicht immer Verlass. Und Mortimer war kein Elefant. Die waren viel sensibler!
„Möchtest du ein Glas Wein?“, fragte Mortimer mit gespielter Harmlosigkeit. Ein neuer Versuch.
„Danke, nein.“, lächelte sie liebenswürdig.
„Ich trinke auch eins.“
„Dann tu das, mein Lieber!“
Sie würde keinen Schluck anrühren, den er ihr einschenkte. Patt.
„Setz dich doch ein wenig zu mir“, bat er sie. „Neben mich auf das Sofa.“ Dabei klopfte er einladend auf den Platz neben sich.
Mortimer goss sich Wein ein und trank in kleinen Schlucken. Sarah bemerkte die nachdenklichen Blicke, mit denen er sie betrachtete. Irgendetwas hatte er vor. Nun, immerhin konnte sie sich setzen. Aber nicht auf die angedeutete Stelle auf der Couch.
Sarah ließ sich in ihren Lieblingssessel nieder und drückte dabei die vordere Kante des Polsters zusammen. Ein plötzlicher scharfer Schmerz jagte ihr von hinten in den  Oberschenkel, dann spürte sie ein Brennen. Entsetzt blickte sie in Mortimers triumphierendes Gesicht, dann trübte sich ihr Sichtfeld ein, in ihrer Brust zog sich ein Band zusammen, schnürte ihr Herz ab. Schließlich wurde ihr schwarz vor Augen.
Bis zum Abend hatte Mortimer alles erledigt: ein Kollege hatte einen Herzinfarkt als Todesursache festgestellt und Mortimer, dem gebrochenen Witwer, kondoliert. Ein Beerdigungsunternehmen war beauftragt, Sarah per Erdbestattung schon am nächsten Tag unter die Erde zu bringen. Alle gingen sehr behutsam mit Mortimer um. Die Todesanzeige war sehr rührend: „Plötzlich und unerwartet verstarb meine geliebte Ehefrau Sarah Gregory mit 33 Jahren an einem Herzinfarkt. Möge sie in Frieden ruhen und eines Tages auferstehen.“
Als besondere Geste und letzten Gruß an seine Frau ließ er ihr ihren Lieblingsschmuck, ein wertvolles Perlencollier, um den Hals legen. „Ich könnte es nie mehr an einer anderen Frau sehen, ohne an Sarah zu denken…“, erklärte er mit brüchiger Stimme.
Aber jetzt hatte er es in Susans Augen zu weit getrieben.
„Bist du verrückt?!“, warf sie Mortimer vor. „Sollen die schönen Perlen mit ihr im Sarg vergammeln?“
„Ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Es wirkt so überzeugend, schließlich wollen wir doch niemanden aufmerksam machen, nicht wahr?“
Susan sah ihn nachdenklich an. „Vielleicht können wir es uns wieder holen. Nach der Beerdigung. Das merkt kein Mensch.“
„Willst du mit dem Spaten auf den Friedhof?“, fragte er spöttisch. „Hast du keine Angst um deine Fingernägel?“
Unwillkürlich betrachtete sie ihre krallenartigen, dunkelrot lackierten Nägel.
„Nein, natürlich werde ich das nicht machen. Du wirst es tun – oder – noch besser – jemanden damit beauftragen.
„Genau!“, höhnte Mortimer. „So ein Typ wird doch mit dem Collier abhauen und es nicht zu uns bringen!“
„So ein Typ“, korrigierte Susan „muss den Schmuck auch erst verkaufen. Und dieses Collier ist zu einfach wiederzuerkennen und schwierig unterzubringen. Zahl ihm mehr, als er beim Hehler bekommt, und er bringt es dir.“
Die Beerdigung lief zur Zufriedenheit aller Beteiligten ab. Die letzten Gäste gingen gegen acht Uhr abends, nicht ohne besorgte blicke auf Mortimer zu werfen.
„Soll wirklich keiner bei dir bleiben?“, fragte voller Mitgefühl seine Cousine.
„Nein. Ich schaff das schon. Ich möchte jetzt allein sein.“
Er schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Das hatte er gut über die Bühne gebracht. Jetzt musste er nur noch auf den Penner warten, der ihm gegen Mitternacht das Collier wieder bringen sollte. Er genehmigte sich einen Whiskey. Aus medizinischen Gründen.
Auf dem Friedhof war es gegen 22 Uhr so still, dass der hinkende Pete seinen eigenen Puls hören konnte, der in seinen Ohren rauschte. Gestützt auf einen breiten Spaten machte er sich auf den Weg zu dem frischen Grab, das ihm der Typ am Telefon beschrieben hatte. Es war schnell gefunden. Da drin sollte eine Frau liegen mit echten Klunkern um den Hals. Pete musste zugeben, dass eine Leiche keinen Schmuck mehr brauchte, also fand er den Wunsch verständlich, die Kette zu bergen. Pete würde sie genug Geld einbringen für die nächsten sechs Monate. Und obwohl er sonst mit schwerer Arbeit äußerst zurückhaltend war, begann er zu graben. Immer wieder blickte er auf, denn ein wenig unheimlich war es ihm schon bei seinem Tun. Hatte er doch immer schon Groschenhefte verschlungen, die von Untoten und Wiedergängern handelten. Die waren in den Romanen immer ziemlich schräg drauf. Wer wusste denn schon, was davon wahr werden konnte und was nicht? Pete schüttelte den Kopf in dem Versuch, sich von den furchteinflößenden Gedanken zu befreien. Er musste weiter graben. Er dachte an den versprochenen Lohn. Das half.
Eine halbe Stunde später hatte er den Sarg freigelegt. Er stemmte mühsam den Deckel los. Erde fiel in das dunkle Innere. Da lag eine Frau. Und um ihren Hals war eine Perlenkette geschlungen. Nochmals versicherte sich Pete, dass ihn keiner beobachtete, dann griff er gierig nach dem Schmuck. Da hörte er ein sonderbares Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Seine Hand, die schon auf den Perlen lag, hielt inne. War das eine Bewegung dort im Sarg unter ihm? Die Frau war doch tot, sonst hätte man sie nicht begraben. Zumindest hoffte er das.
Mortimer schaute nervös auf die Uhr. Fast schon halb zwölf. Nur noch eine halbe Stunde, dann würde er das Collier wieder sein eigen nennen. Gleich musste er sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt machen. Er zog seine Jacke über gegen den Nachtwind und wollte gerade die Klinke der Haustür herunterdrücken, als es draußen plötzlich klopfte. Wer wollte denn um diese Zeit ihn noch besuchen? Ach, dachte er, vermutlich war es Susan, obwohl er mit ihr vereinbart hatte, dass sie sich eine Zeit lang nicht sehen sollten. Aber so waren die Frauen.
Er öffnete die Tür. Was oder wer davor stand, konnte er bei der draußen herrschenden Finsternis nicht gleich erkennen.
„Susan?“, fragte er leise. Niemand antwortete ihm. Doch eine Gestalt in einem weißen Hemd wankte langsam auf ihn zu. Lange dunkle Haare wehten im Wind, dunkle Flecken wie von Erde bildeten einen unheimlichen Kontrast zu dem langen Gewand. Mortimer erkannte sie erst, als sie sich an ihm vorbei ins Haus drängelte. Sie schob ihn einfach beiseite, blickte starr an ihm vorbei und schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Nein, das war doch nicht möglich! Sarah? Wie konnte das Sarah sein? Sie lag doch in ihrem Sarg! Und wieso hatte er auf einmal so ein Stechen in der Brust? Und dieses Druckgefühl auf Lunge und Herz. Er griff sich an den Hals, weil er keinen Atem mehr schöpfen konnte. Dann fiel er gegen die Wand und rutschte langsam zu Boden, während ihm zunehmend das Bewusstsein schwand.