Verdacht

In regelmäßigen Abständen sah Werner Preuss die Notwendigkeit ein, in die nächste Stadt zu fahren, um einige essentielle Dinge einzukaufen. Nicht alles war in der kleinen, eher ländlichen Ortschaft zu haben, die er sein Zuhause nannte.

Genau um 8.59 Uhr bestieg er an jenem denkwürdigen Dienstag den Pendelzug, der erfreulich pünktlich und ohne Signal an die Fahrgäste mit dem Anschlag des Sekundenzeigers um 9.03 Uhr losfuhr. Schadenfroh sah Werner Preuss die zu spät Kommenden den Bahnsteig entlang hetzen. Da der Zug aber bereits angefahren war, mussten sie schnell aufgeben und eine Stunde auf die nächste Bahn warten.

„Geschieht denen ganz recht!“, erklärte er dem gegenüber sitzenden Passagier. „Dass manche Leute sich auch nie an feste Zeiten halten können! Wie planen die denn sonst ihr Leben, wenn sie schon einen simplen Zug verpassen?!“

Der gegenüber sitzende ältere Herr entfaltete statt einer Antwort eine Zeitung und versteckte sich peinlich berührt dahinter. Aber seine Befürchtung, Werner Preuss könnte ihm die ganze Fahrt über ein Gespräch aufdrängen wollen, erfüllte sich zu seiner großen Erleichterung nicht. Kopfschüttelnd lehnte sich dieser zurück und genoss die Fahrt.

Die Ruhe dafür hatte er, denn nach sorgfältiger Abwägung aller Vor- und Nachteile hatte er beschlossen, seine Frau diesmal zu Hause zu lassen. Erstens musste jemand auf den Hund aufpassen und zweitens war er es gewohnt, um Punkt 18 Uhr sein Abendbrot auf dem Tisch zu haben. Zwar wollte er bis 17.45 Uhr wieder zu Hause sein, leider war aber seine Frau mit der Zubereitung einer anständigen Mahlzeit nicht mehr so flink wie früher. Wenn er sie also mitgenommen hätte, hätte er in Erwägung ziehen müssen, erst um 18.15 Uhr zu essen, und das kam ja wohl einer Zumutung gleich! Nun ja, aus diesen Gründen war es wohl besser gewesen, sie daheim zu lassen, auch wenn er dann gezwungen war, den Anzug, den er zu kaufen gedachte, selbst zu transportieren.

In der Stadt angelangt, nahm er den Bus ins Zentrum und betrat daselbst die große „Karstadt“-Filiale. In der Herrenabteilung schaute er sich sofort nach einem dienstbaren Lakaien um. Wie ein Feldherr blickte er um sich, und als nicht sofort jemand herbeigeeilt kam, um nach seinen Wünschen zu fragen, baute er sich am verwaisten Informationstresen auf und sprach in das dort für Personal-durchsagen aufgestellte Mikrofon.                                                 „Bedienung! Hierher!“ schallte es in rüdem Befehlston durch die ganze Verkaufsetage. Von zwei Seiten eilten Herren in blaugrauen Maßanzügen auf ihn zu. Zufrieden mit dem prompten Erfolg seiner Initiative erwartete Werner Preuss beste Bedienung.

Der erste der beiden Herren wollte Werner Preuss schon erbost anschnauzen, was ihm denn einfiele, der zweite aber hielt seinen Kollegen zurück, indem er Werner Preuss mit Namen begrüßte; er hatte bereits vor einiger Zeit das zweifelhafte Vergnügen der Bekanntschaft mit Werner Preuss gehabt. Es gibt eben Kunden, die vergisst man nicht…

„Na endlich!“, schimpfte besagter Kunde. „Wie lange soll ich denn hier noch warten! Ich esse pünktlich um 12 Uhr; wie soll ich das denn schaffen, wenn Sie mich so lange aufhalten!“ Langsam nahm sein Gesicht wieder die bekannte Magenta-Farbe an.

Na, du machst es bestimmt nicht mehr lange, dachte der Verkäufer befriedigt. Laut sagte er servil: „Ich bitte vielmals um Verzeihung, der Herr! Womit kann ich Ihnen dienen?!“

Werner Preuss trug seine Wünsche penibel vor. Eine Stunde lang scheuchte er den Verkäufer  durch die ganze Abteilung und das gesamte Lager, bis er meinte, das Richtige gefunden zu haben.

Aufatmend faltete der Verkäufer den gewählten Anzug in eine große Einkaufstasche, die er nach der Bezahlung seinem „Lieblingskunden“ in die Hand drückte. Dann verschwand er, sich den Schweiß vom geröteten Gesicht abwischend, im Pausenraum für Personal.

Werner Preuss hingegen war im Begriff, zufrieden das Kaufhaus zu verlassen, als ein schriller Ton aus den Diebstahlsicherungsbügeln zu beiden Seiten des Ausgangs ertönte. Wie vom Donner gerührt, blieb Werner Preuss stehen. Es konnte doch unmöglich sein, dass er die Diebstahlsicherung ausgelöst hatte! Fieberhaft überlegte er, wer mit ihm zusammen Richtung Ausgang geeilt war. Einer von denen musste ein Dieb gewesen sein, das sah man den Leuten ja nicht unbedingt an…

Werner Preuss taumelte ein paar Schritte zurück. Die Bügel hörten auf zu jaulen und zu blinken. Dann versuchte er es noch einmal, die Sperre zu passieren, vergewisserte sich diesmal allerdings, dass er allein durchging. Zu seinem großen Entsetzen aber begann der Alarm von vorne. Aber wie war das nur möglich?! Er, ein unbescholtener Bürger sein Leben lang, sollte jetzt diesen Ärger…

Jäh wurden seine Gedanken unterbrochen: „Wenn sie mir bitte unauffällig in mein Büro folgen wollen?! Ich bin der Kaufhaus-detektiv!“                                                                                             Werner Preuss sah erschrocken auf und erblickte einen unauffälligen, aber breitschultrigen Herrn in einem gut sitzenden Anzug. Fassungslos starrte er den Mann an. Das musste ein Albtraum sein, das konnte einfach nicht wirklich geschehen. Empört schnappte Werner Preuss nach Luft und bekam endlich wieder ein paar Worte heraus: „Junger Mann, Sie wollen doch nicht etwa mich beschuldigen, hier etwas gestohlen zu haben?! Das ist eine bodenlose Unverschämtheit, eine unglaubliche Frechheit! Wie können Sie es wagen…“  Werner Preuss sah aus wie kurz vor einem Schlaganfall.                                                                                                „Nun beruhigen Sie sich mal, Opa!“, unterbrach ihn der Detektiv amüsiert. Das versprach unterhaltsam zu werden. Die meisten ertappten Sünder gingen brav mit wie die Lämmer zur Schlachtbank. Dieser hier war weitaus interessanter. Er ließ sich doch nicht von aggressiven Rentnern einschüchtern!

Der laute Wortwechsel hatte bereits einen Kreis von Schaulustigen angelockt. Als Werner Preuss sich dessen gewahr wurde, schrie er, an die Stehen gebliebenen gewandt: „Was gibt’s hier zu glotzen?! Packt euch, ihr Idioten!“

Die Umstehenden begannen zu murren, einige kicherten auch. Der Detektiv packte Werner Preuss beim Arm, um ihn davon abzuhalten, mit seinem Krückstock auf das anwesende Publikum einzudreschen. Dieser ließ sich solche Vertraulichkeiten indes nicht gefallen. Wutschnaubend riss er sich los und nur ein Sprung zur Seite rettete den Detektiv vor dem kreisenden Krückstock des rasenden Rentners.

Die Situation blieb natürlich nicht lange unbemerkt. Ohne dass Werner Preuss es merkte, traten zwei weitere Herren von hinten auf ihn zu und nahmen ihn in festen Gewahrsam mittels Polizeigriff. So wurde er ins Büro des Kaufhausdetektivs geschleppt. Aber Werner Preuss ging nicht leise mit.

In besagtem Büro setzten sie ihn schwungvoll auf einen Stuhl und hielten den zeternden Mann fest. „Werden Sie sich jetzt anständig benehmen oder müssen wir Sie weiter festhalten?!“, brüllten sie ihm ins Ohr. Schlagartig ernüchtert versprach Werner Preuss, sich zu benehmen. Da ließen sie ihn los.

„So!“, sagte der Detektiv, als Ruhe eingekehrt war. „Jetzt werden wir uns mal in Ruhe unterhalten. Zeigen Sie mal ihre Tasche her…“ Einer der anderen Herren reichte dem Detektiv die Einkaufstasche. Ruhig packte er sie aus. Werner Preuss beruhigte sich langsam. Er war ja unschuldig! Wenn das erst mal erwiesen war, würden sie sich bei ihm entschuldigen müssen, das war ja das mindeste…

Der Detektiv hatte mittlerweile seinen gesamten Anzug mit Zubehör  auf dem großen Schreibtisch ausgebreitet, der im Zentrum des kleinen Raumes stand und diesen fast vollständig ausfüllte. Er verglich den Einkaufsbon mit den vor ihm liegenden Waren. Bisher war alles in Ordnung. Aber in der Jackentasche des Anzugs entdeckte er zu guter Letzt einen gestreiften Seidenschlips, der noch das Sicherungsetikett trug und nicht auf dem Bon vermerkt war. Mit triumphierendem Lächeln hielt er den Schlips in die Höhe.

„Soso! Unschuldig nennen Sie das?!“, grinste er. Werner Preuss hatte es die Sprache verschlagen. Seine Gedanken wirbelten. Wie konnte das geschehen sein?! Natürlich, dachte er verbittert. Detektive bekamen 50€ für jeden gefangenen Ladendieb! Werner Preuss hatte sich früher oft genug durch die Anzeige von Ladendieben sein Gehalt aufgebessert. Der Detektiv also musste ihm den Schlips in die Tasche geschmuggelt haben!

Er setzte mehrmals an, bis er seine Anklage herausbekam. Verblüfft starrte ihn der Detektiv an. So ein dreister Dieb war ihm lange nicht mehr vorgekommen.

In dieser „Pattsituation“ traf die Polizei ein, die selbstverständlich gerufen worden war. Zu Werner Preuss‘ Beschämung wurde der ganze Vorgang sorgfältig aufgenommen und er erhielt bis auf weiteres Ladenverbot bei Karstadt und etlichen weiteren zum gleichen Konzern gehörenden Geschäften. Als die Polizei da war, war Werner Preuss regelrecht kleinlaut geworden. Er jammerte zwar noch, er sei unschuldig und man hätte ihm den „Schlips des Anstoßes“ in die Tasche geschmuggelt, aber man nahm ihn nicht mehr ernst. „Typischer Fall von Altersdemenz!“, raunte ein Polizist dem anderen zu. Aber Werner Preuss hatte gute Ohren…

Als man ihn schließlich durch den Hinterausgang entließ, war Werner Preuss nur noch froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Es war bereits nach 12 Uhr und er sah sich gezwungen, sein Mittagessen verspätet einzunehmen, ein Umstand, der ihm seit dem Krieg nicht mehr vorgekommen war. Lustlos stocherte er in seinen Bratkartoffeln herum und fühlte sich beobachtet.

Später kam ihm zu Bewusstsein, dass es eigentlich noch ein Glück war, dass ihm so etwas nicht in seinem Heimatort widerfahren war. Also konnte er hoch erhobenen Hauptes dorthin zurückkehren, ohne dass irgendjemand von seiner Schmach erfahren würde…

Leider hatte er aber die Rechnung ohne die Journalisten gemacht. Am nächsten Abend bereits sah er sich selbst in den Lokal-nachrichten, mit einer Handykamera gefilmt, wie man ihn mit drei Mann abführte. Überschrift für den ausführlichen Bericht war: „Renitenter Rentner wegen Ladendiebstahl in Kaufhaus verhaftet“. Seine Peiniger vom Vortag wurden ausführlich interviewt.

Eine ganze Woche lang traute sich Werner Preuss nicht mehr auf die Straße.