Das Alte Wissen

Frühmorgendliche Nebelschleier lagen über Gras und Sträuchern. Sie füllten die Senke vor Thomas Hunter bis zum Rand wie der Inhalt eines wabernden Hexenkessels. Unwirklich sah die Landschaft aus, urwüchsig, wild, gefährlich. In solchen Momenten hatte er das Gefühl, die technischen und kulturellen Errungenschaften der Menschheit seien nur Illusion gegenüber dem Ewigen der Wildnis. So ähnlich hätte es hier in Irland schon vor mehr als tausendfünfhundert Jahren ausgesehen, als die Menschen noch an die Alten Götter glaubten und ihnen opferten. Hier im Wald waren die Zeichen der Zeit nicht wirklich zu lesen, ein Grund für Thomas, hier spazieren zu gehen. Vogelgezwitscher, die Spuren von Wildschweinen im matschigen Flussufer, Rascheln im Gebüsch. Kein Auto verirrte sich hierher.
Er kam immer, wenn er Abstand brauchte vom Lärm der Welt, von der Distanzlosigkeit der Menschen. Hier hörte er nur seine eigenen inneren Stimmen, nur hier konnte er sie hören, denn sie wurden nicht von aufmerkamkeitsheischender Reizüberflutung übertönt. Er atmete tief durch. Endlich Stille, ein Luxus heutzutage. Kein Radio, das ihn mit den neusten Arbeitslosenzahlen quälte oder mit Meldungen über drohende Insolvenzen, über Flutkatastrophen, Erdbeben oder die grausigen Taten von Kriegsverbrechern.
Sein Lieblingsplatz war ein großer Findling in der Nähe des Bachufers. Dort setzte er sich nieder und beobachtete die Blätter beim Vorübertreiben, wie sie sich drehten seit hunderten von Jahren. Heute befand sich eine Wasserlache zwischen Stein und Bach, die rhythmisch aufblitzte. Als Thomas neugierig nähertrat und hineinschaute, lugte ihm aus der Pfütze ein runzliges Gesicht entgegen. Erschrocken trat er zurück, wollte dann abermals einen Blick hinein wagen. Doch der Mühe wurde er enthoben, denn aus der Pfütze erhob sich, deren Inhalt fast verbrauchend, mit schraubender Bewegung der Kopf einer alten Frau, drehte sich noch eine Weile um sich selbst und stellte seine Rotation erst ein, als Thomas in ihr Blickfeld geriet. Sie starrte ihn aus ihren Wasseraugen an und sprach flüsternd aber deutlich: „Rüste dich, Fremder. Eine Reise steht dir bevor. Eine lange Reise.“ Thomas stand mit aufgerissenem Mund da, voller Schrecken und Verwirrung. Dann antwortete er automatisch: „Sicher, ich fliege morgen nach Miami, der Flug dauert 12 Stunden.“
Blubbernd lachte die Wasserfrau, sagte noch: „Fliegen, ja. Fliegen“, dann verschwand sie wieder in der Wasserlache, die danach in den Boden einzog wie in Löschpapier. Nicht ein einziger Tropfen schien zurückbleiben zu wollen. „Halt!“, schrie Thomas, warf sich auf die Knie und fing ein paar Tropfen der Pfütze mit seiner Hand ein.
„Lass mich los! Ich bin ein Teil von allem hier!“
„Erst beantwortest du mir ein paar Fragen!“, beharrte Thomas.
„Ein Opfer muss gebracht werden, damit bessere Zeiten anbrechen können. Ich muss fort, mich mit dem Rest von mir vereinen!“, jammerten die Tropfen in seiner Hand und rollten langsam aus seiner Handfläche hinaus. „Nein!“, schrie Thomas. Die winzige Wassermenge verharrte zitternd.
„Was hast du gemeint?“
„Schau in dein Herz und in das deiner Vorfahren bis in alte Zeiten. Du kannst das alte Wissen doch nicht vergessen haben?“
„Welches alte Wissen?“, fragte Thomas, aber diesmal teilte sich der Tropfen in drei Teile und entkam durch seine Finger.
Drei Stunden später saß Thomas in der Universitäts-Bibliothek, Abteilung Geschichte, und suchte nach seinen keltischen Ursprüngen. Im Internet war nur mystisches Zeug zu finden gewesen. Thomas wollte wissenschaftlicher an das Problem herangehen. Was hatten die rätselhaften Worte zu bedeuten? Er blätterte in Büchern über keltischen Glauben und Mystik der Kelten. Jede Menge phantasiereicher  Spekulationen hatte er schon gefunden, aber nichts, das konkrete Hinweise gab auf das Rätsel, das es zu lösen galt. Nachdem er den Wald verlassen hatte, kam ihm das Ganze vor wie ein Spuk. Aber abtun ließ es sich nicht. Das Erlebnis beunruhigte ihn mehr, als er es sich selbst gegenüber zuzugeben bereit war. Die Botschaft hatte geklungen wie eine Warnung. Kam eine Gefahr auf ihn zu?
Er blätterte ein weiteres Buch über Druiden durch, als eine Abbildung ihn innehalten ließ: Der Kopf einer alten Frau, der einer offenbar erschrockenen jungen Frau gegenüber stand. Darüber stand: „Prophezeiungen eines baldigen Todes“. Er las sorgfältig das ganze Kapitel, erfuhr, dass der Tod oft als Reise angekündigt und die Botschaft durch Mittelgeister überbracht wurde, oft auch in Form von Pfützen. Manche Menschen, denen solche Vorhersagen  bekannt wurden, versteckten sich, aber nur selten gelang es ihnen, dem drohenden Unheil zu entgehen. Was sollte er tun?
Thomas blätterte sich weiter durch die Regale. Er stieß auf Hinweise zu schrecklichen Opferritualen. Später kamen die Geopferten wieder ins Leben zurück, wenn bessere Zeiten angebrochen waren. Was für ein Blödsinn! Aber hatte die Frau nicht von einem Opfer gesprochen? Sollte er dieses Opfer sein? Um drei Göttern gleichzeitig zu opfern, wurde zu Zeiten der Druiden ein Mensch erschlagen, erwürgt und ertränkt. Der dreifache Tod. Hatte sich der Wassertropfen nicht dreigeteilt? Es gab auch andere Varianten, in denen statt Erwürgen Aufspießen oder Erhängen trat. Thomas Magen zog sich zusammen, er schmeckte die Galle des Entsetzens. Dann schüttelte er den Kopf. Das war doch alles Unsinn! Mit einem lauten ärgerlichen Knall schlug er das Buch zu. Andere Bibliotheksbesucher schauten von ihrer Arbeit auf und warfen ihm vorwurfsvolle Blicke zu. Thomas stand entschlossen auf und verließ mit eiligen Schritten die Bibliothek. Morgen würde er zu Geschäftskollegen nach Miami fliegen und den ganzen Spuk vergessen.
Den Rest des Tages lenkte er sich erfolgreich mit Arbeit ab. Die Vorbereitungen für die Konferenz musste noch beendet werden. Er wollte schließlich nicht der nächste sein, der die Arbeitslosenstatistik um eine Ziffer bereicherte. Aber in der Nacht konnte er nicht mehr so tun, als hätte er die Frau nie getroffen: Er lag lange wach und als es ihm endlich gelang, einzunicken, hatte er grauenhafte Träume, in denen er mit einem Beil erschlagen, danach aufgespießt und schließlich ertränkt wurde. Er erwachte erst, nachdem er alle drei Tode gestorben war, denn in seinem Traum lebte er jedes Mal für die nächste Todesart. Diesen Alptraum träumte er wieder und wieder in dieser Nacht. Am Morgen fühlte er sich wie gerädert. Er rieb sich das Gesicht mit den Händen. Was konnte ihm diese drei Todesarten bescheren? Der Flug? Er überlegte benommen, dann griff eine eisige Hand nach seinem Nacken und stellte alle Haare auf: was, wenn das Flugzeug abstürzte? Wenn ihn Gegenstände aus dem Gepäckfach trafen? Manche davon waren durchaus geeignet, einen Menschen zu erschlagen! Bei einem Absturz konnte auch ein scharfkantiger Gegenstand ihn aufspießen. Und ertrinken? Nun, er würde über genug Wasser fliegen, um hundert Mal darin zu ertrinken. Thomas seufzte, stand auf und schurfte ins Bad. Sollte er das Flugzeug sausen lassen? Und die Konferenz? Der Vertrag? Sollte er die auch sausen lassen? Alles, worum er in den letzten Monaten gekämpft hatte, stand auf dem Spiel. Was würden seine Geschäftsfreunde sagen, wenn er nicht auftauchte? Nein, er musste fliegen! Er konnte nicht seine Existenz aufs Spiel setzen, besonders jetzt nicht, wo seine Freundin Shirley schwanger war. Alle verließen sich auf ihn! Seine Existenz! Ging es denn bei diesem Ausdruck immer nur um das geschäftliche Überleben? War sein Leben bedroht und war das nicht viel existenzieller als die berufliche Karriere? Thomas warf sich mehrere Hände voll Wasser ins Gesicht, ohne darauf zu achten, dass er das halbe Bad unter Wasser setzte.
Eine Stunde später saß er im Taxi auf dem Weg zum Flughafen und versuchte vergeblich, sich auf seine Gedanken bezüglich seines Termins zu konzentrieren. Hartnäckig und endlos wie ein Möbiusband wiederholte eine Stimme in seinem Innern: Du hast nur eine Verabredung heute, und die gleich dreimal!
Mit mühsam bewahrter Fassung stieg er am Flughafen aus. Er checkte erst sein Gepäck und dann sich selbst ein und setzte sich mit einer Zeitung auf eine orangefarbene Plastikschale im Wartebereich. Doch war er entweder zu müde oder zu nervös zum Lesen, denn die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Als sie endlich stehen blieben, konnte Thomas den Inhalt des Geschriebenen aber ebenso wenig erfassen, als seien es Hieroglyphen. Er warf das Blatt auf die Nachbarschale und spazierte durch die Abflughalle zum riesigen Panoramafenster. Müde legte er die Stirn gegen die kühle Scheibe. Sollte er einsteigen? Oder lieber nicht? Noch konnte er die Konferenz absagen. Lügen, er sei krank. Irgendetwas.
Eine weitere Stunde später sah Thomas im Flughafenrestaurant sitzen. Er hatte die Halle wieder verlassen und beobachtet, wie sein Flieger abhob. Auch wenn er sonst selten emotionale Entscheidungen traf, fühlte er sich jetzt seltsam erleichtert, wie befreit von dem Alpdruck, der ihn kaum hatte atmen lassen. Jetzt konnte er wieder durchatmen. Plötzlich fing er an zu lachen.
Ein gewaltiger Knall ließ Luft und Boden erzittern. Thomas erlebte wie in Zeitlupe drei Dinge gleichzeitig: Ein schwerer Betonbrocken löste sich von der Decke und fiel auf ihn herab. Ein Teil eines stählernen Wasserrohres bewegte sich schnell wie ein Speer auf seine Brust zu. Und ein dicker Wasserstrahl schoss aus dem beschädigten Rohr. Bald würde das Lokal geflutet sein wie ein Goldfischglas.
Die Maschine, die ohne ihn geflogen war, stürzte über dem Atlantik ab. Es gab keine Überlebenden.
Der Wirtschaft ging es drei Monate später wieder besser und die Anzahl der Arbeitslosen verringerte sich deutlich. 

Zur gleichen Zeit gebar Shirley einen Sohn, den sie nach ihrem Vater Thomas nannte.