Weihnachtswünsche

„Ich wünschte, das verdammte Fest würde dieses Jahr ausfallen!“, schimpfte Gerhard Moll nicht zum ersten Mal im Dezember. Sorglos lächelte seine Angetraute Sabine: „Das sagst du jedes Jahr! Und dann ist Weihnachten doch jedes Mal wieder richtig schön!“
„Jaaa, schon möglich!“, seufzte Gerhard, schon etwas versöhnlicher. „Weihnachten kann es ja ruhig geben! Aber der Stress vorher: Karten, beleidigte Verwandte und Bekannte, die keine Karte bekommen haben, Geschenke, beleidigte Kinder, weil sie nicht immer alles kriegen können, was sie sich wünschen, …“
„Ich weiß!“, stimmt Sabine ihm zu, legt ihm eine Hand auf den Arm und sah ihm in die Augen.
„Außerdem sind die Läden voll, die Verkäufer unfreundlich und haben keine Zeit, uns zu beraten und überall gibt es nur buntes Plastikzeug zu hohen Preisen!“, machte Gerhard sich weiterhin Luft.
„Aber wir müssen trotzdem losfahren und Geschenke besorgen. Ich habe schon eine Liste. Du weißt ja, die Puppe für Andrea und etwas für Max, womit er auch spielt. Oma holt die Kinder gleich ab, dann können wir in die Stadt.“
Es klingelte an der Tür. Mit lautem Freudengeheul stürzten sich Andrea und Max auf ihre Oma und waren schnell angezogen und draußen.
„Na gut, bringen wir es hinter uns!“, seufzte Gerhard und beugte sich der Notwendigkeit, die sich aus dem 22.Dezember ergab: der letzte Samstag vor Weihnachten. Verkaufsoffen bis 24 Uhr! Grauenhaft, dachte er.
Es war noch schlimmer! Die Stadt quoll vor Menschen über, die Glühweinstände waren von gröhlenden Leuten umlagert, nirgendwo war mehr ein Durchkommen. Es war, als ob sie in einem Strom getrieben würden, aus dem es kaum ein Entkommen gab. Unwiderstehlich wurden sie auf einen überdimensionalen Weihnachtsmann mit Megarentier zu getrieben, dessen Anblick allein schon in Gerhard Übelkeit aufsteigen ließ.
„Lass uns hier verschwinden!“, brüllte er seiner Frau ins Ohr, um gegen die aggressive Lautstärke der Weihnachtsmusik anzukommen. Mit einem Blick auf das unübersichtliche Gewimmel in diesem Menschenmeer nickte sie. Eine Seitenstraße war bald gefunden, doch es war sehr kraftaufwändig, aus dem steten Menschenstrom auszuscheren. Auf ihrer Seite gingen alle Leute in die Richtung, in der auch Gerhard und Sabine sich treiben lassen wollten. Gerhard ging voran und bahnte ihnen beiden den Weg, zuerst im spitzen Winkel in ihrer Laufrichtung auf die Seitenstraße zu. Danach kam der Gegenstrom, der sich in der entgegengesetzten Richtung bewegte. Nun mussten sie sich im spitzen Winkel gegen ihre bisherige Marschrichtung bewegen. Das alles verlief nicht ohne Rempeleien und Proteste derjenigen, die weiter mit dem Strom schwimmen wollten und sich aufgehalten sahen. „Hey!“, wurde ihnen nachgebrüllt. „Ihr spinnt wohl!“
In der Seitenstraße nahm der Lärmpegel und der Stress beträchtlich ab. Gerhard schloss die Augen und atmete auf. Sabine kämpfte sich schnaufend zu ihm vor.
„Und jetzt?!“, fragte sie zog die Augenbrauen hoch. „Wie kommen wir an die Geschenke für die Kinder?!“
Müde schlug Gerhard die Augen wieder auf und sah seine Frau nachdenklich an. „Es muss doch noch mehr Geschäfte geben als hier in der Innenstadt!“
„Lass mich mal überlegen. Wir könnten in die kleineren Läden gehen, die etwas abseits liegen. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass dort weniger los ist als hier!“
„Darauf lass ich’s ankommen!“, sagte Gerhard fest.
Also liefen sie zwei Kilometer weit zur nächsten größeren Ladenpassage. Es war dort zwar voll, aber nicht so entsetzlich überfüllt wie in der Innenstadt. Auch Glühweinstände suchte man hier vergeblich, also waren die Leute viel friedlicher und ruhiger. Auch die Weihnachtsbeschallung hielt sich in sehr viel erträglicheren Grenzen. Und Riesenweihnachtsmänner gab es auch nicht. Fröhlich lächelten sich Gerhard und Sabine zu, als sie einen kleinen Spielzeugladen betraten, der so aussah, als gehörte er gar nicht mehr in die moderne Zeit; als hätte er wie durch ein Wunder alle Kaufhäuser überlebt. Der Laden war verwinkelt und dämmrig durch die überfüllten Regale. Überall fielen ihnen geradezu Spielsachen entgegen. Teddys, Puppen in rosa Kleidern, Bauklötze, Holzeisenbahnen mit Schranken, Spielzeugautos, Brettspiele und vieles mehr, soweit das Auge reichte. Und weiter hinten, am Ladentisch, ein kleines, vertrocknetes Männchen, das die beiden Besucher freundlich anlächelte, wobei sein Gesicht sich zu tausenden von Fältchen zerknitterte. Gerhard und Sabine lächelten verlegen zurück und sahen sich erst mal um. Sie waren die einzigen Kunden im ganzen Geschäft. Sonderbar. Gerhard und Sabine sahen einander verwirrt an. Wohin waren sie hier nur geraten?!
Plötzlich stand der winzige Verkäufer neben ihnen und sprach sie mit heiserer Stimme an: „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Irritiert schauten beide zu ihm herunter. Er reichte Sabine gerade bis zur Schulter, und sie war nur 1,60 Meter groß. Der Verkäufer maß also höchstens 1 Meter 40!
„Nein, danke!“, antwortete Gerhard für sie beide. „Wir schauen uns erst mal selber um!“
„Aber genau das haben Sie sich doch gewünscht, oder?!“, wunderte sich der Verkäufer lächelnd. „Leere Läden, freundliche Bedienung und nicht nur bunte Plastikspielsachen zu hohen Preisen?!“
Mit offenem Mund starrte Gerhard das Männchen an. „W-Woher wissen Sie das?!“, stotterte er schließlich. Sabine hatte es ganz die Sprache verschlagen.
„Das spielt keine Rolle. Ich weiß es eben! Zu mir verirren sich nur die Menschen, die diese Wünsche haben. Die anderen bemerken meinen Laden gar nicht.“
Sie schauten hinaus zur Straße und tatsächlich: Draußen trieb an den großen Schaufensterscheiben der Weihnachtsverkehr vorbei, die Leute hasteten hierhin und dorthin, aber niemand schien Interesse zu haben, diesen Laden zu betreten. Langsam wurde es Gerhard und Sabine unheimlich. Aber als hätten sie ihre Bedenken laut ausgesprochen, antwortete der Verkäufer: „Keine Angst, wenn Sie nichts finden, dann können Sie meinen Laden genau so verlassen wie jedes andere Geschäft. Aber schließlich ist Weihnachten die Zeit der kleinen Wunder. Lassen Sie mich Ihnen einfach ein paar Spielsachen zeigen. Ich bin sicher, Sie werden etwas Passendes finden. Und meine Preise sind nicht überhöht, das werden Sie auch feststellen!“
Er ging zu den Puppen, die Sabine schon lange fasziniert anschaute. Aber immer, wenn sie aus der Puppenparade eine andere Puppe betrachtete, schienen sich die anderen im Augenwinkel zu verändern. „Das wäre doch sicher was für ihre achtjährige Tochter! Schauen Sie mal diese hier an! Sieht sie nicht aus wie ein Engel? So hat Ihre Tochter doch ihre Traumpuppe immer beschrieben, oder?“
Er hielt eines seiner Püppchen hoch. Und er hatte recht! Genau so sollte sie sein! Also entschied sich das Ehepaar für die hübsche altertümliche Puppe mit dem langen hellblauen Kleid.
Erleichtert atmeten sie auf. Diese spezielle Puppe zu finden war kein einfaches Problem gewesen. Andrea würde sich freuen.
„Nun zu Ihrem Sohn. Max heißt er, oder?!“, fragte der Verkäufer und sah sie aufmerksam an. Gerhard und Sabine wunderten sich mittlerweile über gar nichts mehr. Sie genossen nur die gute Bedienung und die reichhaltige Auswahl.
„Ja!“, antwortete Sabine lächelnd. „Er ist vier Jahre alt. Aber das wissen Sie, oder?!“
Der Verkäufer lächelte verschmitzt.
„Wie wäre es denn mit dieser Holzeisenbahn?! Damit könnte er sicher schöne Strecken bauen. Ein schöner Zug ist auch dabei und viele Sonderteile!“
Zufrieden kauften sie auch dieses Spielzeug. Gerade wollten sie sich bei dem Verkäufer bedanken, da bedeutete dieser ihnen, noch einen Moment zu warten und kletterte auf eine Leiter, die an einem Regal lehnte. Dort holte er ein kleines hübsch verpacktes Päckchen hervor und gab es Gerhard und Sabine mit. Geheimnisvoll sagte er: „Das ist mein spezielles Weihnachtsgeschenk an Sie beide. Alle meine guten Kunden bekommen es. Öffnen Sie es erst unter dem Christbaum und Sie werden sehen, es wird das schönste Weihnachtsfest, das Sie je erlebt haben werden.“ Sie bedankten sich und verließen zufrieden den kleinen Laden. Das Getümmel hatte sie wieder, aber sonderbarerweise machte es ihnen beiden nichts mehr aus. Sie holten die Kinder von der Oma ab und gingen nach Hause.
Zwei Tage später war es so weit. Heiligabend war gekommen. Als ihre Kinder glücklich mit den Geschenken spielten, öffneten Gerhard und Sabine unter dem Christbaum neugierig das kleine Päckchen, das der Verkäufer ihnen mitgegeben hatte. Es enthielt einen weißen Porzellanengel. Als sie ihn wie einen Wächter zwischen die Geschenke auf das Tischchen gestellt hatten, breitete sich eine unglaubliche Wärme und Freude in ihren Herzen aus. Der Engel verbreitete Zufriedenheit und Freude. Das war wahrhaftig das schönste Geschenk. Gerhard küsste seine Frau und sagte leise, auf den Engel deutend: „Sieht er nicht ein wenig aus wie der sonderbare Verkäufer in dem kleinen Spielzeugladen?!“ Sabine lächelte und nickte. Und Gerhard hätte schwören können, dass der Engel ihm bei seinen Worten gerade zugezwinkert hatte.