Ver…

Irgendetwas hatte Samantha erschreckt! Mit jagendem Puls und schmerzhaftem Herzklopfen fuhr sie im Bett hoch und riss die Augen auf. Ihr Schlafanzugoberteil klebte schweißnass an ihr und fühlte sich ganz kalt an. Sie japste nach Luft, als wäre sie schnell gelaufen. Es musste ein scheußlicher Albtraum gewesen sein, der sie geweckt hatte, aber sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, nur an ein Gefühl der Bedrohung. Ihr Blick schweifte zum Nachttisch. Ungläubig schaute sie auf die digitalen Leuchtziffern ihres Weckers: es war schon nach 10 Uhr! Hatte sie etwa verschlafen?! Dann fiel ihr ein, dass heute ja Sonntag war. Die Anspannung wich von ihr und sie sank zurück in ihre Kissen und in das Dämmerlicht ihrer Gedanken. Der Albtraum war verblasst und sie hatte das Herzjagen bereits vergessen. Sonderbare Gefühle ergriffen Besitz von ihr. Irgendetwas stimmte nicht. Vielleicht war sie krank?! Sie fühlte sich so sonderbar heute Morgen. Als ob sie gerade vor eine geschlossene Tür gelaufen sei. Wie betäubt im Kopf und gleichzeitig so leicht wie ein Schmetterling. So beschwingt, dass sie instinktiv auf ihren Nachttisch schaute und nach der leeren Sektflasche suchte, als hätte sie im Schlaf welchen getrunken, ohne dass sie sich dessen bewusst geworden wäre. In ihrem Bauch hatte sie eigenartige Sensationen, als ob sie in einer Achterbahn säße, die sich gerade anschickt, in die große Talfahrt zu gehen. Looping nicht ausgeschlossen.
Seufzend stand sie auf und zog den schweren dunklen Samtvorhang vor ihrem Schlafzimmer-fenster zurück, der das Zimmer in ein angenehmes Dämmerlicht getaucht hatte. Und blinzelte benommen in die hellen Strahlen der Junisonne. Dann schwebte sie zur Tür hinaus – sie hatte wirklich das Gefühl zu schweben! Obwohl sie schon oft genug Bekanntschaft mit der Schwerkraft gemacht hatte. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Sie schüttelte ihn so heftig, dass ihre langen blonden Haare nur so flogen. Aber das einzige Ergebnis war ein leichtes Schwindelgefühl. Am Schweben änderte sich nichts. Also schwebte sie weiter ins Bad und warf sich eine ordentliche Menge eiskaltes Wasser ins Gesicht. Aha! Samantha bekam wieder etwas Bodenhaftung. Gut, dachte sie erleichtert. Sie hatte schon befürchtet, sie wäre – „Ver…“, fluchte sie verärgert, als ihr kleiner Zeh schwungvoll gegen den Türrahmen stieß. Autsch, tat das weh! „Das kommt davon, wenn man schwebt, anstatt zu gehen!“
Samantha humpelte zur Küche, holte ein Coolpack aus dem Kühlschrank und kühlte ihren angeschlagenen Zeh. Allmählich ließ der Schmerz nach. Als sie ihren Morgenkaffee aufsetzte, stellte sich langsam das Schwebegefühl wieder ein. Was war nur los mit ihr?!
Sie hatte den gestrigen Abend in sehr netter Gesellschaft verbracht. Zwei ihrer besten Freundinnen hatten zusammen Geburtstag gefeiert. Mindestens zwanzig Personen waren eingeladen gewesen. Fast alles Pärchen, bis auf sie selbst und zwei Soloherren. Mit beiden hatte sie sich im Verlauf des Abends unterhalten – aber nur von einem fühlte sie sich gut unterhalten. Er hieß Konrad und war Computerspezialist. Das war irgendwie merkwürdig, denn sie hatte das Vorurteil gefasst, dass Computerfachleute entsetzlich trocken wären. So trocken, dass sie sich nach einem Gespräch mit so einem Mann wie nach einer tagelangen Wüstenwanderung hätte fühlen müssen: erschöpft und unglaublich durstig. Deshalb mied sie im Allgemeinen solche Typen. Bei Konrad aber fand sie seine Profession erst später heraus. Sie fragte nämlich einen anderen Gast, als Konrad ihnen Getränke holte. Konrad selber war dieser Frage geschickt ausgewichen. Hatte ihm vielleicht jemand einen Tipp gegeben, dass sie Computerleute langweilig fand? Jedenfalls, als sie wusste, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, war es bereits zu spät gewesen: sie amüsierte sich in seiner Gesellschaft! Es war absolut widersinnig, aber sie musste in der geheimsten Kammer ihres Herzens zugeben, dass es stimmte. In der Kammer, die keine Lügen zuließ, noch nicht einmal kleine Flunkereien.
Aber warum war es denn so schlimm, sich in der Gesellschaft dieses Mannes so wohl zu fühlen?! Das Schweben hatte an dem Abend begonnen, obgleich sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Ihre Freundinnen hatten nur „Gesundes“ zu trinken da gehabt. Da haben wir es ja!, dachte sie, als ihre innere Achterbahn schon wieder ins Bodenlose stürzte. „Samantha, du bist doch nicht etwa ver…?“, sagte sie laut in das Rülpsen der Kaffeemaschine, mit dem diese anzeigte, dass der Kaffee gleich fertig sei. Nein, das war doch ausgeschlossen.
Sie hatte sich seit ihrer letzten gescheiterten Be… alles, was mit dem gewissen Begriff zu tun hatte, strengstens untersagt. Sie gebrauchte die Worte nicht mehr, sie traute sich noch nicht mal, gewisse Worte auch nur zu denken! Leider konnte sie die entsprechenden Zusammenhänge nicht völlig aus ihrem Gedächtnis streichen. Zumal alle Welt nichts Besseres zu tun zu haben schien, als nur über die Begriffswelt zu reden, die sie sich verboten hatte! Es erforderte eine ungeheure Selbstdisziplin, das Thema zu meiden. Ihren Fernseher hatte sie abgeschafft, denn es gab kaum eine Sendung, die an diesen Begriffen vorbei kam. Sie las keine Zeitungen mehr. Selbst im Internet musste sie sehr aufpassen, welche Seiten sie öffnete und was sie las! Oft entpuppten sich harmlos erscheinende Artikel als ziemlich brisant für sie! Das war wie ein Fluch! Wie mit dem Fluchen, das sie auch nicht ausstehen konnte! Auch das Fluchen hatte sie sich weitgehend abgewöhnt. Warum sollte sie sich dann nicht das L… abgewöhnen können?! Das Fluchen vermisste sie nicht. Eines Tages würde sie auch das L… nicht mehr vermissen. Es war eben einfach eine Frage des Willens, der Selbstdisziplin!
Warum war es nur so schwer?! Lähmte irgendetwas ihren Willen?! Und nun hatte sie die Kontrolle verloren? Wegen Konrad? Einem Computerfachmann?! Unmöglich, schalt sie sich. „Samantha,“, erklärte sie laut, als sie ihren Kaffee eingoss, „du bist 28 Jahre alt und du hast das Recht, dich zu amüsieren. Auch mit Konrad.“ Solange keine Katastrophe mit L eintrat!
Samantha stand gerade vor ihrem Schminkspiegel und machte sich zurecht, da klingelte ihr Telefon. Es war Konrad. Ver…, dachte sie, hast du ihm gestern Abend wirklich deine Nummer gegeben?!
„Ich würde dich gerne wiedersehen, Samantha!“, tönte es am anderen Ende der Leitung. „Wie wäre es mit nächstem Samstag?!“
„Aber gern!“, hörte sie ihren Mund plappern. Ver…! Waren denn ihre Sprechwerkzeuge unabhängig von ihrem Willen?! War es vielleicht das, was man einen Freud’schen Versprecher nannte?! Sie hatte doch etwas ganz anderes sagen wollen!
„Gehen wir zusammen essen?“, fragte Konrad hörbar erfreut.
„Wohin?“, fragte ihr ungehorsamer Mund. Fassungslos beobachtete sie sich. Es erwachte ein beinahe wissenschaftliches Interesse in ihr. Irgendein Teil von ihr ärgerte sich, ein weiterer Teil analysierte ihr eigenes Verhalten und ein dritter Teil war amüsiert. Das war der Spötter, wie sie ihn immer nannte. Dieser Teil von ihr konnte nichts ernst nehmen und er teilte ihr mit: Das musste ja eines Tages so kommen.
„Ins Bona Sera? Das ist ein neuer Italiener in der Stadt. Magst du italienische Küche? Sie haben da auch selbstgemachtes Eis! Um 18:00 Uhr?“
„Ich esse gerne italienisch!“, bekannte sie steif, da sie gewisse Worte ja nicht gebrauchen durfte, die treffender gewesen wären. „Achzehn Uhr passt gut!“ Tatsächlich war selbstgemachtes Eis ein gutes Argument. Ein sehr gutes. Irgendjemand musste Konrad einen Tipp gegeben haben, das war wohl eindeutig! In ihrem Bekanntenkreis wussten alle um ihre Archillesferse, wie sehr sie Eis l…, wobei „italienisch“ und „selbst gemacht“ ihre Vorfreude ins Paradiesische steigerten. Er hatte sie erwischt! Es gab wohl für Samstag 18 Uhr kein Entkommen. Ihr innerer Widerstand gegen ein Treffen beim Italiener schmolz dahin wie Eis in der Sonne.
Was war auch schon dabei, zusammen etwas zu sich zu nehmen?! Millionen von Leuten taten dies täglich gemeinsam, ohne dass die bewussten Begriffe zur Anwendung kamen. Wenn nicht Milliarden! Also, das konnte sie schon riskieren! Immerhin handelte es sich um selbstgemachtes italienisches Eis. Himmlisch, dachte sie. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich auf das Treffen mit Konrad am Samstag freute.
„Ich freue mich darauf!“, ertönte Konrads Stimme aus dem Hörer. „Ich hole dich um halb sechs ab.“
„Ich freue mich auch“ schnurrte Samantha - auf das Eis, dachte sie dann, um sich zu rechtfertigen. Nicht auf Konrad. Wo kämen wir denn da hin?! Keine L…, nie mehr ver…, keine ver… Be…, dann würde schon alles gut werden.
„Bis Samstag!“, verabschiedete sich Konrad. Er klang sehr zufrieden. Unverschämt siegessicher! Aber anstatt ihm das zu sagen, sprach ihr Mund ihm einfach nach:
„Bis Samstag!“
Unglaublich, dachte sie wütend. Wie konnte das nur passieren?! Hatte er sie heimlich hypnotisiert?! Sie nahm sich vor, sehr, sehr vorsichtig zu sein im Umgang mit Konrad. Sie durfte sich Konrad immer nur fein dosiert erlauben. Das war wie der Umgang mit Gift: es kam auf die Menge an. Es musste nicht tödlich wirken! Manchmal war es sogar ganz heilsam! Vielleicht wurde sie durch dosierten Umgang mit Konrad sogar immun gegen ihn, wer weiß?! Weiß! Italienisches Eis. Zitronengeschmack. Ihr Lieblingseis. Wie frisch gefallener Schnee.
Er hatte sie überrumpelt! Ver…!!!