Auf der Straße

„Hi.“ hauchte Karin mit heiserer Stimme. „Wie wär’s denn mit uns beiden.“ Ihr war kalt, die Lungenentzündung nicht auskuriert und sie stand wie jede Nacht an der Straßenecke im Gewerbegebiet. Die Laterne beleuchte die Kreuzung mit ihrem gelben Licht und von der Unterführung wehte ein Geruch nach Urin herüber. Das brackige Wasser im Hafenbecken plätscherte in der Ferne und kalter Nieselregen fiel unablässig aus den dunklen Wolken über der Stadt.

„Verpiss dich!“ schallte es ihr entgegen, gedämpft von der Scheibe der Beifahrertür. Der Fahrer klang mehr erschreckt als wütend, als er zu ihr hinaufblickte, aber seine laute Stimme ließ Karin trotzdem zusammenzucken. Er war nur angehalten, um etwas aus dem Handschuhfach zu suchen, eine Straßenkarte. Karin hatte das von ihrem Platz unter der Laterne nicht gesehen. Ihre Hände zitterten, sie sehnte sich nach einem Schuss, aber das Geld fehlte.

Sie strich sich mit der Hand durch die Blonde Perrücke und kratzte ungeniert, wo die künstlichen Haare ihre Kopfhaut reizten, dann trat sie vom Auto zurück. Der alte Mercedes gab Gas. Er würde nicht noch einmal in dieser Gegend anhalten. Karin blickte ihm nur einen kurzen Augenblick nach.

Die engen Schuhe bissen in Karins Zehen, als sie vorsichtig über das rissige Pflaster stöckelte, zurück zu ihrer Laterne. Rote Lackschuhe mit schmalen Riemen und hohen Absätzen. ‚Fick mich’-Schuhe - hätte ihr Bruder gesagt, aber sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Entlang der Straße standen noch andere Huren, wie sie. Es war ihr Revier. Hinter der nächsten Kurve wartete Bernd. Er würde sie beschützen, wenn ein Freier sich nicht benehmen wollte, aber er kassierte auch drei viertel der Einnahmen dafür und das meiste vom Rest, wenn er ihnen das Heroin verkaufte.

Karin strich den kurzen Rock, als wolle sie die Falten glätten, aber eigentlich wünschte sie er sei ein paar Zentimeter länger. Ihre Beine froren in den Netzstrümpfen. Und über dem engen T-Shirt trug sie auch nur ein Bolerojäckchen und eine Federboa, die sie irgendwann auf einem Flohmarkt gefunden hatte. Heute Nacht nützte das alles nichts und ihr Make-up verwischte in dem beständig fallendem Regen, es sollte wasserfest sein, aber das war übertrieben, gegen die ständige Nässe in dieser Nacht kam es nicht an.

Unter der Laterne warf Karin einen Blick in den Schminkspiegel und reparierte, was sich noch in Ordnung bringen ließ. Ihr Magen knurrte, sie hatte seit Tagen nichts richtiges mehr gegessen. Sie brauchte den nächsten Schuss und zwar bald. Eine Überlegung Bernd noch einmal anzubetteln wischte sie beiseite, sie fürchtete die Schläge, die es setzte, wenn sie nicht genug Umsatz machte. Blaue Flecken an Bauch und Rücken waren immer noch nicht ganz verschwunden. Bern schlug seinen Mädels nie ins Gesicht.

„Scheiß Nacht, K.“ brummte Lara. Sie war dick und steckte in einem schwarzen Lackkleid, die Haare waren dunkel, aber es waren ihre eigenen. Sogar ihre Lippen waren schwarz angemalt. Unter dem Rocksaum steckten ihre Beine in schwarzen Netzstrümpfen und die Füße in Hochhackigen Lackstiefeln. Sie war herübergekommen, um ein wenig zu quatschen und Karin den einen oder anderen Kunden abspenstig zu machen. Die Kerle hielten öfter bei Lara, als bei Karin. Lara sah verlebter aus als Karin, Ringe unter den Augen, unreine Haut von viel Make-up übertüncht. Vielleicht hatten die verheirateten Freier ein weniger schlechtes Gewissen, wenn die Nutte nicht zu gut aussah. Nur heute Nacht war so gut wie gar nichts los.

„Mhm.“ machte Karin und zog dem Lippenstift nach. Sie hatte keine Lust auf Lara, keine Lust auf diese Nacht. Keinen Bock auf Bernd oder einen der perversen Freier. Und sie hatte keine Wahl. Es war so lange her, dass sie ein anderes Leben geführt hatte. Es war besser gewesen, trotz allem.

Karins Gedanken drehten sich um den nächsten Kick, aber der war schon lange nicht mehr so gewesen, wie am Anfang. Am Anfang, als es ein Abenteuer war, das weiße Pulver durch die Nase zu ziehen. Als Bernd noch ein Freund war, der vorgab seine Mädels zu verwöhnen. Sie durchschaute die Fassade, hatte es schon vor langer Zeit getan. Aber da war sie bereits von zu Hause weggelaufen und die Scham hielt sie auf der Straße. Die Scham und die Drogen und Bernd, der sie nicht gehen lassen würde. Irgendwo wusste sie das alles.

„Bernd sollte uns bei diesem Wetter nicht rausschicken.“ fuhr Lara fort. Karin nickte nur und versuchte den Husten zu unterdrücken. Aber in Wirklichkeit gab es kein schlechtes Wetter zum Anschaffen.

„Sag ich ja. Du gehörst ins Bett.“

„Mehr Jobs für Dich.“ Karins Stimme wollte nicht so recht, sie verschluckte sich und Hustete heftig, dass Lara einen Schritt zurück machte, um sich nicht anzustecken.

„Wenn Du uns hier verreckst, kommt wochenlang kein Freier mehr.“

„Lass mich doch in Ruhe.“ flüsterte Karin zwischen den Anfällen. Hätte sie noch irgend etwas im Magen gehabt es wäre jetzt im Rinnstein gelandet, aber außer Galle kam nichts hoch. Sie spuckte in den Rinnstein und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

Karin rappelte sich wieder auf, gerade rechtzeitig, als endlich ein Auto in die Straße bog. Nachts war in dieser Gegend nichts los. Die Geschäfte geschlossen, die Gewerbe verlassen. Dann gehörte das Viertel dem illegalen Straßenstrich.

Hin und wieder schaute die Polizei vorbei, aber sie war ein zahnloser Tiger. Meistens geschah das, wenn der Verdacht auf Menschenhandel aufkam, gestreut durch Konkurrenten, die die Straße übernehmen wollten. Bernd schüttelte das ab und oft genug verschwand der Herausforderer und man hörte nichts mehr von ihm. Eine Nacht in der Zelle, dann waren die Mädchen wieder am Ort und etwas später trauten sich auch die Männer wieder in die Gegend. Bernd konnte nie etwas nachgewiesen werden, seine Frauen würden nicht gegen ihn aussagen.

Die Chancen standen gut, dass dieser Audi sich nicht verfahren hatte, keine Karte suchte, sondern etwas anderes. Nur ganz wenige Männer kannten das offene Geheimnis nicht, wo man in der Stadt die billigen Nutten finden konnte.

Karin stützte sich noch an der Laterne ab, während Lara schon auf den langsamer werden den Wagen zuhielt. Sie kamen fast zur selben Zeit nebeneinander zum Stillstand.

Die Seitenscheibe auf der Beifahrerseite fuhr elektrisch herunter, ein leises Summen, das durch den Regen drang. Lara beugte sich in das offene Fenster.

„Nicht Du. Sie da.“ hörte Karin den Fahrer sagen.

Lara antworte etwas unanständiges, dann gab sie den Wagen frei. Der Fahrer winkte Karin. „Du. Steig ein.“

Es war wie ein Reflex. So oft war Karin dieser Aufforderung schon nachgekommen. Sie ging zum den Wagen und stolperte fast, als sich der Pfennigabsatz in einem Riss im Pflaster verhakte. Dann öffnete sie die Tür und setzte sich in den Kunstledersitz das Wagens. Sportsitze. Der Wagen roch noch neu. Kunststoff und Diesel. Ein scharfes Rasierwasser.

„Hand 20. Blowjob 50. 100 mit Kondom Mehr is’ nich. Zahlen im Voraus.“ murmelte Karin und versuchte dem Mann ins Gesicht zu schauen. Aber der blickte bereits wieder auf die Straße und fuhr an. Natürlich war mehr drin, es war immer mehr drin, wenn das Geld stimmte und der Entzug spürbar wurde. Es gab Kerle, die nur darauf warteten, denn dann ging der Preis nach unten und die Frauen waren bereit, alles zu machen für den nächsten Kick. Zwei Abtreibungen hatte Karin schon gehabt. Heroin und Pille vertrugen sich auch nicht gut. Wenn man sich nach dem Schuss übergab, war die ganze Vorbeugung für die Katz.

Karin machte sich nicht die Mühe den Gurt klicken zu lassen, dachte nicht einmal daran. Sie würden nur ein paar Meter fahren, gerade mal außer Sicht der Hauptsraße in einer Gasse halten und das Geschäftliche erledigen. Nur selten wollte ein Freier ein Zimmer im Hotel, das kostete extra. Im Wagen war es warm.

Er trug eine Jeans und ein kariertes Hemd. Trotz der dunklen Nacht hatte er eine Sonnenbrille aufgesetzt. „Blas mir einen.“ verlangte er und zog zwei zwanziger aus der Tasche.

Karin hatte vor Ewigkeiten aufgegeben, zu protestieren, es hätte keinen Sinn und 40 waren besser als nichts. Sie steckte die Scheine ein und machte sich am Hosenstall des Mannes zu schaffen.

Er schaute sie nicht einmal an dabei. Schwarze Bartstoppeln bedeckten Kinn und Wangen, die Haare waren mit Gel zurückgestrichen. Auto und Kleidung passten nicht zusammen.

„Wird das heute noch was?“ Er stieß sie beiseite und packte seinen Schwengel selbst aus, er war bereits steif. Karin verspürte keinen Ekel mehr, die Gedanken wanderten an einen anderen Ort.

Sie war abgehauen, von zuhause, als der betrunkene Vater sie und ihre Mutter wieder einmal verdroschen hatte. Mit dem Geld aus der Spardose kaufte sie eine Busfahrkarte in die nächste Stadt bettelte eine Weile auf der Straße, bis Bernd sie irgendwann auflas. Sie dachte sie hätte Glück gehabt, ihn zu treffen.

Der Mann presste ihren Kopf hart in seinen Schoß und sie schluckte die warme salzige Flüssigkeit. Ihr Magen knurrte.

Dann schlug er ihren Kopf gegen das Armaturenbrett. „Und jetzt gib mir das Geld wieder.“

Tränen schossen in ihre Augen, aber das war nur der Schreck, der Schmerz machte ihr nichts aus. Sie tastete nach der Handtasche und zog das Geld zwischen den Taschentüchern und dem Lippenstift hervor. Karin spürte keine Angst dabei. Angst machten ihr nur die Männer, die drohten mit einem Messer ihr Gesicht aufzuschlitzen. Sie wurde auf die Straße geschubst und Riss sich den Strumpf auf. Die Stirn schmerzte, vielleicht würde es eine Beule geben.

Sie stand auf und klopfte sich den Dreck vom Rock. Von Bernd war weit und Breit nichts zu sehen. Karin hatte ihn auch nicht erwartet. Er gab vor sich um seine Mädels zu kümmern, aber das waren sehr viel öfter nur leere Worte als tatsächliche Handlung. Handeln tat er nur, wenn sein Geschäft bedroht war. Wenn es nur um die nächste Ecke ging mit einem Mann, dann waren sie auf sich allein gestellt. Es war nicht das erste mal, dass sie geschlagen wurde, auch Vergewaltigungen kannte Karin. Und es würde nicht das letzte mal bleiben. So gesehen hatte sie noch Glück, dass sie in dieser Nacht noch weiterarbeiten konnte.

Und ihr fehlte immer noch das Geld für den nächsten Kick. Sie kannte das Gefühl, das zittern, das die Gedanken immer enger darum kreisten. Noch ein paar Stunden und sie würde auf Entzug kommen.

Die ersten Schritte waren noch wackelig, dann ließ der Schwindel nach und sie ging zurück zu ihrer Laterne. Lara stand neben einem neuen Auto. So langsam schien der Abend in Gang zu kommen. Der Regen ließ allmählich nach, aber dafür frischte der Wind vom Hafen her auf. Es roch nach totem Fisch, aber das konnte auch der Nachgeschmack sein, und dem Malz, das bei der Brauerei verladen wurde. Die kalte Brise ließ sie wieder frösteln.

„Hey, K! Komm rüber. Du hast'n Fan hier.“ rief Lara ihr entgegen.

Karin stutzte, das ein Kerl nach ihr gefragt hatte war in den letzten vier Jahren noch nie vorgekommen. Sie wurde misstrauisch, aber wenn sie zu lange um den Wagen herumstanden würde Bernd dazu kommen und sie wusste nicht, wie sie erklären sollte, das der letzte Job ein Reinfall war. Sie hatte heute noch gar nichts verdient. Bernd würde das wütend machen.

Sie beugte sich hinunter zum offenen Fenster.

„Karin?“

„Wer will das wissen?“

Der Mann zog einen Hunderter aus der Tasche. „Steig ein. Ich will hier nicht ewig stehen.“

„Ich kann Deine Karin sein, wenn Du willst?“ mischte sich Lara ein. Sie stand dicht neben Karin und drängte sich jetzt wieder näher an das Fenster.

Aber Karin schob Lara beiseite und stieg ein, sie brauchte den Job, das Geld, ein paar Krümel von dem Pulver, um das sich ihr Leben jetzt drehte. Wenigstens sah der Mann besser aus, als der letzte. Vielleicht zehn Jahre älter, als Karin, aber Karin sah alt aus für die 22 Jahre, die sie zählte. Sie konnte andere Menschen altersmäßig nur schlecht einschätzen, aber was sie wollten, das sah sie meisten sehr schnell. Dieser Kerl gab ihr Rätsel auf. Jeans, Hemd, eine Brille mit schmaler Fassung. Das Auto Mittelklasse von VW, nicht ganz neu, aber in gutem Zustand, er roch nach Chips und Erdnüssen. Sie hielt die Hand auf.

Der Fahrer drückte ihr den Schein in die Hand und sie ließ ihn schnell in der Handtasche verschwinden. Das würde für eine kleine Dosis reichen, genug, um durch die Nacht zu kommen.

„Du kennst mich nicht.“

Karin schüttelte den Kopf und presste die Hände in den Schoß, damit sie nicht so zitterten.

„Und ich wünschte, ich hätte Dich kennen gelernt, aber das sollte wohl nicht sein.“ flüsterte er leise, dass Karin kaum verstand, was er gesagt hatte.

„Was willste?“

Der Wagen fuhr an und Karin spürte den Druck, sie beschleunigten schnell und der Motor heulte auf, aber dann nahm der Mann den Fuß wieder vom Gas.

„Schnall Dich an.“

„Kommt nich in Frage. Lass mich raus.“ Noch eine Niete.
Die Türverriegelung klickte und Karin sah, wie der Knopf an der Tür zurückgezogen wurde.

„Nein.“

Karin schaute sich um, ob Bernd ihnen folgte und tatsächlich waren Lichter hinter ihnen. Hoffentlich hatte Lara Bernd gesagt, dass etwas mit dem Typen nicht stimmte, er würde sie zurückholen, das tat Bernd. Niemand nahm ihm seine Nutten fort. Sie dachte an den Schein in der Tasche, aber wenn der Mann neben ihr so ein perverser war, dann waren 50 nicht genug.

"Warum machst Du das hier?" wollte der Mann wissen, den Blick auf die regennasse Straße gerichtet, es waren wenige andere Autos unterwegs zu dieser Zeit.

Erst dachte Karin, er würde wissen wollen, warum sie zu ihm eingestiegen war, aber er meinte alles. Sie zuckte die Schultern, hatte schon lange nicht mehr darüber nachgedacht. Ich guten Nächten reichte es, in Schlechten eben nicht.

Der Fahrer hatte ihre Reaktion nicht gesehen und warf einen kurzen Seitenblick zu ihr hinüber.

"Gibt es nichts anderes, womit Du Dein Geld verdienen kannst?"

Karin antworte: "Was? an'er Kasse im Supermarkt. Ich verdiene mehr auf der Straße." Sie versuchte zu lachen, aber sie hustete nur. Der Mann reichte ihr ein Taschentuch, welches sie vor den Mund presste.

"Es ist Widerlich!" und er meinte nicht ihr trockenes Keuchen.

"Biste mein Vater, oder was?" fuhr sie ihn an, aber dann ließ sie sich zurückfallen in den Sitz, erschöpft und außer Atem. Und der Magen knurrte nicht mehr, er krampfte.

"Lass uns zur Sache kommen und dann wich ich aussteigen." presste sie zwischen den Zähnen hervor.

Der Mann konzentrierte sich wieder auf den Verkehr und schwieg. Karin wusste nicht, warum sie auf ihn einging, vielleicht war es einfach die Möglichkeit mit jemandem zu reden, der zuhören wollte.

"Es gibt nichts anderes für mich. Ich hab die Schule abgebrochen, nichts gelernt und ..." sie setzte den Satz nicht fort. Wollte sagen, dass sie Abhängig war, von den Drogen, von Bernd. Sie presste die Lippen auf einander. Wenn sie einen Ausweg sehen würde, vielleicht würde sie ihn gehen. Als sie anfing glaubte sie, dass sie auf der Straße einfach Geld verdienen konnte. Sie wusste nicht mehr, wie viel davon ihre Idee war, wie viel von Bernd kam.  Das schien unendlich lange her zu sein - fünf Jahre.

"Es gibt immer einen Weg."

"Unsinn." Sie fühlte die Wut, sie wollte ihn schlagen. Wie konnte er so etwas Dummes sagen. Es war ja nicht einmal so, dass sie es nicht einmal versucht hätte. War wieder weggelaufen, nicht lange nach dem sie das erste mal auf der Straße gestanden hatte, weil sie ihre Schulden bei Bernd nicht bezahlen konnte. Nach zwei Tagen fand er sie. Schlug sie, sperrte sie ein.

Bernd sagte sie ganze Zeit, was für Sorgen er sich gemacht hätte, wie sehr er sie liebte, wie wichtig sie für ihn sei, dass er sie beschützen wollte und jedes der Worte war begleitet von seinen Schlägen. Nach Tagen in einem dunklen Keller nahm er sie in die Arme trocknete ihre Tränen und sagte dass es ihm leid täte. Und das er sie umbringen würde, wenn sie noch einmal davonlaufen würde. Diese letzten Worte glaubte sie ihm.

Die Lichter hinter ihnen kamen näher und Karin spürte, wie sie in den Sitz gedrückt wurde als der Wagen weiter beschleunigte, der Motor heulte auf. Sie bogen ab und fuhren auf die Autobahn.

"Du kannst Dir helfen lassen."

Karin schüttelte nur den Kopf und starrte auf die Regentropfen, welche die Windschutzscheibe hinauf liefen.

Diesmal hatte er es gesehen, weil er gerade zu ihr sah. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Es konnte ihm nicht entgangen sein, dass sie verfolgt wurden. Dann war Bernds Porsche auch schon fast neben ihnen. Der fremde Mann stieg in die Bremse. Reifen quietschten stotternd, als das ABS einzugreifen begann. Er zog von der linken Spur hinüber zur Ausfahrt, während Bernd fast die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor, als er ebenfalls eine Vollbremsung hinlegte. Karin sah noch, wie er auf der Autobahn zurücksetzte, um ebenfalls die Ausfahrt zu nehmen.

Sie kurvten durch das Autobahnkreuz und waren kurze Zeit Später in eine Neue Richtung unterwegs, auf einer Bundesstraße. Und es waren wieder Lichter hinter ihnen. Karin wagte nicht zu hoffen, dass es die Scheinwerfer eines anderen Wagens wären.

"Du kannst mir nicht helfen." sagte Karin leise und schaute wieder nach vorn in die Nacht.

"Ich kann es versuchen."

"Du weißt noch nicht einmal, ob ich das will. Du kennst mich nicht."

Jetzt sah sie, wie er den Kopf schüttelte, während er wieder einen Gang nach oben schaltete.

"Meine Mutter war wie Du." versuchte er zu erklären.

"Ach du Scheiße. Biste deshalb so durchgeknallt?"

Der Fahrer lachte kurz.

"Sie hat mich zur Adoption frei gegeben. Es hat Jahre gedauert, bis ich herausfand, wer - was sie war." Es war keine Abscheu in der Stimme, nur Sachlichkeit. "Du hast keine Ahnung, wie das ist, auf Entzug zur Welt zu kommen."

Noch eine Abfahrt. Alte Bäume rasten zu beiden Seiten vorbei. Sie fuhren viel zu schnell.

"Und jetze biste Missionar und versuchst die Nutten zu retten?" aber die Härte war aus Karins Stimme gewichen. Sie dachte an die Kinder, die sie hätte haben können und es war in Ordnung, dass Bernd dafür gesorgt hatte, dass sie sie nicht bekam. Sie hätte dies nicht für sie gewollt. Adoption. Ja, anderes wäre es nicht gegangen.

"Warum ich?" wollte Karin wissen.

"Weil Du die Entscheidung nicht mehr treffen kannst."

"Quatsch. Vielleicht mache ich genau das, was ich machen will." Aber sie wusste selbst, dass das nicht so war.

"Ist das so?" fragte der Mann und Karin schaute auf die verschränkten Hände, die sie in den Bauch presste, weil die Krämpfe nicht nachlassen wollten. Sie fühlte sich durchschaut.

Die Lichter hinter ihnen setzten wieder zum Überholen an und der Mann gab mehr Gas, schaltete einen Gang höher und zog in die entgegenkommende Spur. Bremsen quietschten hinter ihnen und der Verfolger fiel ein wenig zurück.

"Wenn ich Dich in eine andere Stadt bringe ..."

"Bernd findet mich." fuhr Karin dazwischen.

"Deine Eltern?"

"Die will ich nicht sehen."

"Ein Frauenhaus."

Sie schüttelte wieder den Kopf. "Was liegt Dir an mir?"

Der Mann wandte sich zu ihr um. "Ich wollte immer nur meine Mutter kennen lernen. Wissen, woher ich kommen, wo meine Wurzeln sind."

Ein Schlag drückte sie kurz in die Sitze, dann fielen sie nach vorn. Er, gehalten vom Gurt, blickte sich kurz um. "Mist." Sie, nicht angeschnallt, schlug mit dem Gesicht gegen das Armaturenbrett, biss sich auf die Lippe, schmeckte Blut auf der Zunge.

Er versuchte wieder Gas zu geben, aber sie waren bereits viel zu schnell für die nasse Straße. Er zog in die Gegenspur, um sich vor den Verfolger zu setzen, ihn am Vorbeiziehen zu hindern. Aber Bernd war schon fast neben ihnen. Sein Kotflügel streifte ihr Heck.

Von dem, was weiter passierte bekam Karin kaum etwas mit, sie verlor das Bewusstsein, als das Fahrzeug schleuderte und sich überschlug. Das Knirschen von Metall, das Brechen von Knochen. Das war das letzte, was sie hörte und spürte. Sie wurde durch die Windschutzscheibe geschleudert, als der Wagen gegen einen Baum krachte. Und auf einmal war es ganz still. Nur die heißen Motoren tickten in der kühlen Nachtluft und Benzin tropfte auf die Straße.

 

* * *

 

"Ah, sie sind wach." die Stimme drang aus weiter Ferne in ihr Bewusstsein. Eine weibliche Stimme. Karin wollte nicht wach sein. Nicht zu denken, nichts zu spüren, schien ein Segen zu sein. Im Gegensatz zu dem, was jetzt nach oben drängte.

Sie fühlte die Schmerzen im Kiefer, in den Armen. Der Druck auf den Brustkorb. Das Atmen fiel ihr schwer. Erst dann merkte sie, dass sie gar nicht selbst atmete, ein Schlauch steckte in ihr und pneumatisch wurde ihre Lunge gedehnt und fiel wieder zusammen, es roch scharf nach Reinigungsmitteln. Geräte piepten und summten um sie herum, Lichter blinkten. Nur die Beine spürte sie nicht.

Sie öffnete die Augen und blinzelte in das helle Licht. Eine Frau, Ärztin, stand vor ihr. Es fiel Karin schwer das Bild scharf zu stellen, ihre Augen gehorchten den Befehlen des Gehirns nur widerwillig.

"Ich werde jetzt den Atemschlauch entfernen. Atmen sie kräftig ein und wenn ich sage, wieder aus."

Karin versuchte es und es fühlte sich an, als würde ihr die ganze Luftröhre aus dem Körper gerissen. Sie hustete und bekam keine Luft.

"Atmen sie ein." Die Ärztin drückte ihr eine Maske über Mund und Nase.

Sie tat es.

"Und aus."

Sie ließ die Luft aus dem Brustkorb entweichen. Als müsste sie das Atmen erst wieder lernen. Jeder Zug schien in der Lunge zu brennen, als der kühle Sauerstoff mit Luft vermischt in die Lungen strömte. Nach einigen Minuten hatte Karin sich beruhigt. Der Hals tat weh, aber sie atmete wieder allein und ohne Hilfe.

"Können Sie mir ihren Namen sagen?"

Karin versuchte es, aber es kam nur ein heiseres Flüstern.

"Sehr gut. Es ist alles in Ordnung. Sie sollten viel trinken, in den nächsten Stunden." Die Ärztin sah sich die Krankenakte an, dann schaute sie zurück zu der Patientin.

"Sie hatten einen schweren Autounfall." sagte sie. "Mein Name ist Doktor Jansen. Ich behandle sie."

Karin versuchte zu nicken, aber gab es auf, es war zu anstrengend. Sie wünschte nur, sie könnte weiterschlafen.

"Spüren Sie das?"

Karin öffnete die Augen wieder und sah, dass die Ärztin eine Nadel in ihren Fuß stach. Ihr fehlte die Kraft sich zu wundern, warum das nicht weh tat. Sie bewegte langsam den Kopf hin und her.

"Ihre Wirbelsäule wurde gestaucht, zwei Wirbel waren gebrochen. Wir sind ganz zuversichtlich, dass das Gefühl wiederkehrt, aber es kann einige Wochen, vielleicht Monate dauern." erklärte Dr. Jansen.

Die Ärztin machte einen Schritt an die Seite des Bettes. Sie trug kurzes blondes Haar und eine Brille mit schwarzem Rahmen. Das Stethoskop schaute aus der Tasche ihres weißen Kittels.

"Sie lagen fünf Wochen im Koma. Sie haben großes Glück, dass sie noch Leben. Währen Sie angeschnallt gewesen ..." Die Frau stockte. Karin wünschte sie würde weitersprechen.

"Wussten Sie, dass sie Schwanger waren?"

Karin bewegte wieder den Kopf hin und her, aber sie bemerkte die Vergangenheitsform der Frage und wünschte, die Ärztin würde doch lieber den Mund halten. Die Ärztin schaute nach einer Reaktion in Karins Gesicht, aber da war nichts zu sehen.

"Die Fahrer der beiden Autos haben nicht überlebt." "Die Polizei möchte mit ihnen reden, aber ich hab denen gesagt, dass das bis Morgen warten muss."

Sie spürte die Tränen in den Augen, aber es war nicht wegen dem ungeborenen Kind. Sie war froh.

Die Frau Doktor interpretierte die Tränen auf ihre Weise und sprach nicht weiter. Für einige Momente starrte sie nur auf die Krankenakte. Sie war noch jung, noch nicht so lange auf der Intensivstation, dass ihr die Schicksale nicht mehr nahe gingen.

Karin schloss die Augen und versuchte zurückzufallen in den Nebel, aber das war vorüber und es blieb nur der Schmerz, wo die Schrauben ihre Knochen zusammenhielten. Und das Gefühl, das eine Last von ihr genommen war.
 

* * *

 "Woher kannten Sie Martin?"

"Wen?" Karin bemühte sich, den Rollstuhl voran zu bewegen, aber ihr fehlte noch die Kraft. Die Frau war das zweite mal zu Besuch. Beim ersten mal hatte sie nur kurz hereingeschaut. Sie hatte sich erkundigt, wie es Karin ging, hatte sich aber nicht getraut zu bleiben. Karin sah ihre Unsicherheit, in den vorsichtigen Schritten, den zurückhaltenden Bewegungen. Sie war auch heute unsicher, aber sie überwand sich.

Karin war sich sicher, nach wem die Frau fragte, aber man hatte ihr nie seinen Namen genannt.

Heute hatte die Frau mehr Mut zusammengerafft, aber es war Karin gewesen, die gebeten hatte, dass sie ihr in den Rollstuhl und in den Garten half. Sie spürte ihre Füße schon wieder, aber sie fühlten sich taub an, als wären es die Glieder einer Anderen. Nackt schauten ihre Zehen unter der Decke hervor, die über ihren Beinen Lag. Die Füße steckten in grünen Plastikslippern, das einzige Schuhwerk, dass sie anziehen konnte, ohne sich zu sehr anzustrengen.

Es nieselte, die Blätter der Bäume rauschten im Wind, aber die Luft war warm vom vergangenen Sommertag. Karin genoss die klare saubere Luft, nach dem sterilen Geruch von Desinfektionsmitteln in ihrem Krankenzimmer. Hinter den Hochhäusern näherte sich das Geräusch eines Hubschraubers.

Die Frau blieb stehen und sie sahen sich einen Augenblick an, dann trat sie zurück, packte die Griffe des Rollstuhls und begann zu schieben.

"Mein Mann. Martin Roberts. Er hat das Auto gefahren."

Karin schüttelte den Kopf. "Ich kannte ihn nicht." Sie wusste nicht, wie viel die Frau schon gehört hatte, wo Martin sie aufgelesen hatte, was er von ihr wollte. Sie war sich ja selbst nicht sicher, was passiert war und warum.

"Er ist nie zu Huren ... " Sie stockte, als hätte sie ein falsches Wort benutzt.

Karin lachte. "Schon gut. Er wollte nichts von mir..." und dann fuhr sie etwas leiser fort: "Das jedenfalls nicht."

"Warum dann?"

Als Karin sich zu ihr umdrehte, hatte die Frau Tränen in den Augen.

"Ich möchte es nur verstehen." sagte sie, mehr zu sich selbst, als zu Karin.

"Weiß nich. Hat von seiner Adoption erzählt, dass seine Mutter auch auf'm Strich war." Karin versuchte die richtigen Worte zu finden, aber ihr wollte nichts einfallen, das die Frau hätte trösten können.

"Nein, das stimmt nicht. Martins Mutter ist Anwältin in Berlin. Martin war nicht adoptiert." sie klang verwirrt.

Karin sah zu ihr hinauf, sie waren stehen geblieben.

"Er hat mir das Leben gerettet." sagte sie. "Ich darf noch einmal neu anfangen." und spürte die Erleichterung. Nicht nur ihre Eigene, auch die der Frau, als sie ihr die Hand auf die Schulter legte. Den Trost, dass es einen Sinn zu geben schien, wo keiner sein konnte.

Die fremde Frau sagte nichts. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, wo der Rettungshubschrauber im Anflug war. Karin schaute hinunter auf ihre Hände, die ruhig in ihrem Schoß lagen.