Zirkus

Meine Brüder sind aufgeregt, aber sie sind auch erst 7 und 9 Jahre alt. Natürlich sind sie begeistert vom Zirkus. Ich bin schon fast 15 und musste mit.

Ich mag die Clowns nicht - langweilig!

Mama sitzt auf der anderen Seite von meinen Brüdern und sagt irgendetwas zu Ihnen. Ich bekomme nicht mit, was es war, denn plötzlich lachen die Leute – ich fand’s nicht witzig.

Nächste Nummer: Löwen, die einen Dompteur anbrüllen – wenn sie ihn nur fressen würden, das wär was.

Jan und Lars wippen auf und ab auf ihren Sitzen, wir haben Plätze ganz vorne. Pausenlos machen die Musiker krach, spielen Märsche und Trommelwirbel. Ich wär auch zu Haus geblieben, oder hätte einen Freund besucht.

Es geht weiter im Programm: Menschen, die am Trapez hängen und sich durch die Luft schleudern – Gäh …

Sie hält meinen Blick gefangen! Wenn Sie die Stange loslässt, sieht es aus, als würde sie fliegen, hoch oben unter dem Zeltdach. Sie trägt einen grünen Anzug, auf dem Pailletten glitzern. Grüne Ballettschuhe an den Füßen, gebunden mit langen Bändern. Und ich kann meine Augen nicht von ihr nehmen, wenn Sie drei Salti macht und nach den Armen des Artisten greift, der mit den Beinen im Trapez hängt. Mir stockt der Atem, sie sind so weit entfernt, das kann nicht gut gehen. Aber sie fasste seine Handgelenke und er die Ihren.

Ich komme kaum zu Atem, da fliegt sie schon wieder in die andere Richtung. Erst lang gestreckt, mit ausgebreiteten Armen, dann rollt sie sich zusammen, zu einer Kugel dreht sich und streckt sich, gerade rechtzeitig, um von ihrem Kollegen an den Knöcheln gepackt zu werden.

Die Artisten lassen sich nacheinander ins Netz fallen und schwingen sich herab in den Applaus des Publikums. Einmal glaube ich, sie schaut mir in die Augen, nur eine Sekunde, zwischen den Verbeugungen. Mir tun die Hände weh vom Klatschen.

Viel zu schnell ist die Nummer vorbei und von der Folgenden bekomme ich kaum etwas mit. Denn meine Gedanken schlagen Salti um das Mädchen mit dem grünen Dress, sie konnte nicht viel älter sein, als ich. Vielleicht war sie im gleichen Alter.

Der Mann mit Zylinder und schwarzem Stock kündigt die nächste Sensation an und ich beobachte meine Brüder und meine Mama. Ich rutsche von meinem Stuhl und finde mich im Gang wieder. Die halbe Strecke zum Ausgang bin ich schon geschlichen, bevor mir überhaupt klar wird, dass ich dabei bin, mich davon zu stehlen. Ich habe keinen Schimmer, was in mich gefahren ist.

Zwei Männer stehen am Zelteingang, einer hat die Hände tief in den Taschen vergraben, der andere dreht sich eine Zigarette.

„Hallo, kleiner Mann. Willst du die Vorstellung nicht weiter sehen.“ Fragt der Zweite und leckt das Blättchen an.

„Wo ist die Toilette?“ frage ich.

 „Da drüben, beim Eingang.“ Sagt er und deutet in die Richtung, in die ich gehen soll.

Ich nicke und drücke mich an seinem Bauch vorbei ins Zelt, er verstellt absichtlich den Weg, um mich zu ärgern, ich bin sicher. Aber ich sage nichts.

Es ist kalt. Obwohl es schon früher Nachmittag ist, sind die Gräser noch von Raureif bedeckt. Stände mit Zuckerwatte, Luftballons und Waffeln. Die Wohnwagen stehen hinter einem Bauzaun, der mit einer Plane bespannt ist. Das Mädchen in Grün ist irgendwo dahinter, ich suche nach einem Eingang, aber ich kann keinen finden.

Was ich finde, ist ein zweites Zelt. Ich hoffe auf einen Durchgang zu den Wohnwagen der Künstler. An einer Stelle sind die Zeltbahnen nicht fest verspannt und es hat sich ein Spalt gebildet. Ich schaue mich um: niemand ist in meiner Nähe. Also drücke ich mich durch die Lücke in den Planen und betrete das Zelt. Es ist die Menagerie des Zirkus.

Hier riecht es nach Stroh und Kot und Urin und nach dem Schweiß von Tieren.

Die schwarzen und weißen Pferde stehen da und Kamele, die waren noch nicht dran. Aber angezogen werde ich von den beiden Elefanten. Die sind riesig. Ich schaue mich um und etwas Licht fällt durch die Lücke in den Planen, durch die ich gekrochen bin.

Ich stehe schon fast vor diesen großen Tieren, als ich etwas Grünes aufblitzen sehe. Mir bleibt das Herz fast stehen, das kann ja nicht sein. Aber da sitzt sie. Zwischen den Tieren auf einer Bank an der Seite des Affenkäfigs. Sie schaut auf, als die Affen Krach machen und mich verraten.

„Hallo.“ Sage ich und weiß nicht weiter. Ich habe Angst, dass sie wütend wird, weil ich hier herumschleiche.

„Hallo.“ Sagt sie und lächelt. Genau so, wie vorhin im Zelt. Die Affen balgen sich und beobachten uns, aber sie kreischen nicht mehr.

„Das war echt krass.“ Sage ich und werde rot.

„Krass?“ sie schaut mich an.

„Deine Vorstellung eben. Echt gut. Als ob Du fliegen würdest.“

Ich schaue in die grünen Augen und mein Mund fühlt sich trocken an.

„Dennis.“ Sage ich nach einer Weile. Und sie schaut mich an, als ob ich chinesisch reden würde. „Mein Name. Ich heiße Dennis.“ Erkläre ich.

„Sandrine.“ Ihr Name klingt in meinen Ohren wie eine Melodie, von der ich gerne mehr hören würde. Einen kurzen Moment ist ihr Atem in der Luft zu sehen, es ist kalt in dem Zelt, trotz der warmen Leiber der Tiere.

„Schickes Kostüm“ stottere ich und komme mir vor, wie der Idiot, für den sie mich halten muss.

Sandrine schaut an sich herunter, es ist nicht viel mehr als ein Badeanzug mit ein paar Fransen, den Pailletten und einigen bunten Strasssteinen. Sie ist barfuß, die Ballerinaschuhe, die sie in der Manege getragen hat, liegen im Heu neben ihr. Die langen grünen Bänder winden sich um ihre Finger und Füße, sie dreht Schleifen daraus, während sie überlegt.

Sie rutscht zur Seite auf der Bank. „Setz dich.“

Ich zögere, bis sie mich wieder ansieht, dann setze ich mich neben sie.

„Das sah ziemlich gefährlich aus, vorhin.“ sage ich, nur um irgendwas zu sagen. „Übst Du viel?“ plappere ich weiter, als Sie nicht gleich antwortet, dann klappe ich den Mund wieder zu.

„Kannst Du mir helfen?“ fragt sie und legt ihre Hand auf meinen Arm. Unter dem dicken Parker läuft mir eine Gänsehaut den Rücken runter. Ich spüre wie sie zittert aber ich bin mir nicht sicher, dass es von der Kälte ist.

Ich schaue ihr ins Gesicht, aber sie blickt fort.

„Du bist ja noch ein Kind. Du vergisst mich wieder.“ Sagt sie schnell und tut so, als würde sie die Elefanten mustern.

„Ich bin fast fünfzehn.“ Sage ich entrüstet und ich sehe an ihren Mundwinkeln, dass sie grinsen muss.

„So alt schon,“ murmelt sie und ich weiß nicht, ob sie sich lustig macht über mich. Sie beugt sich hinunter, um unter den Elefanten hindurchzusehen. Ich mache es ihr nach. Da steht ein Mann am Durchgang zur Manege, er schaut sich suchend um, es ist der Kerl mit der Zigarette. Ich bin mir sicher, dass er nach mir Ausschau hält.

„Was meinst Du damit: Ob ich Dir helfen kann?“ flüstere ich plötzlich vorsichtig.

Wenn Sie mich wieder anschaut, glänzen ihre Augen, als ob sie gleich zu Weinen anfangen würde. Dann zuckt sie mit den Schultern und schiebt ihre Füße zwischen die Strohalme.

„Ich möchte nach Hause.“

„Ich dachte dies hier …“

Sie schüttelt den Kopf, dann kommt sie ganz nah an mein Ohr. „Man hält mich hier fest. Ich kann nicht weg.“ erklärt sie mit gesenkter Stimme und zieht am Band der Ballettschuhe. Erst jetzt sehe ich, dass es nicht zufällig um ihre Füße liegt, es ist festgebunden und am anderen Ende schiebt sie mit dem Fuß das Stroh beiseite. Ein Pflock steckt im Boden und das Band ist daran festgemacht.
Ich bücke mich, um den Knoten zu lösen, aber meine Finger bekommen ihn nicht zu fassen.

„Das Band ist verzaubert.“

„Quatsch.“

Sie greift nach meinen Händen und zieht mich schnell hoch.

„Was macht der denn hier?“ Der Mann mit der Zigarette steht plötzlich bei uns und schaut so wütend aus, dass ich mich ducke. Ich habe ihn nicht kommen hören.

„Ist es nicht Zeit, dass Du wieder gehst?“ Seine Blicke bohren sich in meinen Kopf und diesmal ist es kein angenehmer Schauer, wie vorhin, der mir über den Rücken läuft. Ich habe gar nicht auf die Uhr geachtet, bestimmt sucht Mama mich schon.

„Geh.“ Sagt Sandrine leise. „Es freut mich, das Dir die Vorstellung gefallen hat.“

„Ja,“ nicke ich und stehe langsam auf.

„Du hast hier nichts gesehen.“ Sagt der Mann und ich glaube ihm. Seine Stimme ist nicht in meine Ohren, sondern in meinem Kopf, als wäre es meine eigene. Ich habe auch nichts gesehen, denke ich plötzlich. Ein paar Elefanten, andere Tiere. Seltsam. Ich denke, dass mich das interessieren müsste, aber in meinem Schädel ist nur Leere und die Stimme des Mannes. Dann sehe ich in die Augen einer Akrobatin, war sie gerade schon da? Ihre Augen schauen traurig und das Grinsen in ihrem Gesicht wirkt wie aus Stein. Plötzlich ist alles wieder da ich kann mich erinnern und weiß, was gerade passiert ist.

„Ich hab nichts gesehen.“ sage ich und schaffe es, Sandrine zuzuzwinkern. Ihre Augen werden groß und sie öffnet den Mund ein wenig. Ich merke, sie ist erstaunt.

„Wir ziehen morgen weiter, aber im Frühjahr sind wir wieder in der Stadt.“ Erklärt sie schnell.

„Oh.“ ich brauche viel zu lange, um zu verstehen, was sie gerade gesagt hat. Ich werfe einen Blick zurück, aber es ist zu spät, etwas zu sagen. Ich sehe nur, wie ihre Augen mir folgen, während der Mann mich aus dem Zelt schiebt.

Ich blinzle in das Sonnenlicht vor den Zelten, wo Jan und Lars schon rumrennen und nach mir rufen. Mein Atem steht einen Moment wie eine kleine Wolke in der kalten Luft. Dann laufe ich zu ihnen hinüber.