Das Aquarium

Jakob saß in seinem Sessel und schaute auf das große Aquarium, in dem die Fische ihre Kreise drehten, oder sich hinter den Pflanzen versteckten.
„Jakob. Du musst etwas essen“, sagte die Pflegerin, Er vergaß manchmal ihren Namen, er war 84 Jahre alt.
„Kein Hunger“, Murmelte er. Ein gelber Zwergbuntbarsch schnappte nach einer Futterflocke.
Marlies, oder so, stellte das Tablett auf den Beistelltisch neben seinem Sessel. Sonst versuchte sie ihn zu überreden an den Esstisch zu gehen, aber in letzter Zeit stellte er sich die Frage, welchen Sinn diese alten Rituale noch machten, er war so oft müde.
„Nur ein Löffel.“ Sie lächelte. „Für mich.“
Jakob wandte seinen Blick von den Fischen zu der Pflegerin, die morgens und Mittags in seine Wohnung kam, um ihn zu versorgen. Sie war jung, hübsch sogar. Und jedes mal wenn Jakob sie ansah, fühlte er sich in seiner schrumpeligen Haut noch viel älter.
„Was gibt es denn?“ Er hatte ihr schon vor drei Jahren das Du angeboten, weil er die förmliche Anrede nicht mochte.
„Leckeres Kartoffelpüree …“ Jakob verzog den Mund. „Ich habe noch fast alle Zähne.“ Brummte er. Marlies zuckte mit den Schultern und häufte einen Löffel mit dem Kleister voll. Er wollte sie anfahren, was ihr einfallen würde, ihn wie ein Kind zu behandeln, aber er hatte Angst, sie würde das ausnutzen, um ihm den Löffel in den Hals zu schieben. Also schüttelte er nur den Kopf.
Marlies ließ den Löffel sinken.
„Ich lasse das Essen hier stehen und sehe nachher noch mal nach Dir.“
Jakob nickte langsam und schaute wieder nach seinen Fischen.
„Nicht vergessen. Deine Enkeltochter kommt nachher“, sagte Marlies noch, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.
„Ich weiß.“ Flüsterte Jakob, obwohl er es vergessen hatte. Jana würde versuchen ihn zu überreden in ein Altenheim zu gehen, sie wollte die Wohnung. Sie würde das nicht sagen, aber Jakob fühlte es bei jedem Besuch. Noch besser fände sie es sicher, wenn er endlich den Löffel abgeben würde.
Bei dem Gedanken warf er einen Blick auf das Püree und nahm den Löffel in die Hand. Er tunkte ihn in die Soße und nibbelte etwas daran. Das Essen war nicht wirklich schlecht. Aber es war nicht so, wie Barbara es immer gekocht hatte.
Aus der Küche hörte er Geräusche und eine Waschmaschine wurde angestellt. Langsam kletterte er aus dem Sessel, nahm den Stock – eine andere Gehhilfe verweigerte er hartnäckig. Und bewegte sich auf das Aquarium zu. Jakob hatte den Eindruck, es würde eine Ewigkeit dauern, bis er die zwei Meter zurückgelegt hatte. Vielleicht kam es ihm aber nur so lang vor, weil es vor einem halben Leben nur zwei Schritte gebraucht hatte. Fast alles, woran er sich erinnern konnte und wollte, war schon so viele Jahre her.
„Ihr müsst was essen“, sagte er leise. „Nur ein Löffel. Für mich.“
Und er krümelte etwas Fischfutter in das Becken und einige Fische schnappten sofort danach, andere warteten, bis sie an der Reihe waren.
Er schlich zurück in seinen Sessel und schaute aus dem Fenster. Ein Auto parkte vor dem Haus. Schneeflocken tanzten über die Straße. Seine Enkelin schloss gerade den Wagen ab. Ihr Mann Volker war auch mitgekommen und die Zwillinge jagten einander den Fußweg rauf und runter.
Jakob mochte seine Urenkel Max und Moritz sehr, aber die beiden waren auch anstrengend. Ganz wie ihre Vorbilder und manchmal würde er die Rabauken auch gern durch die Mühle drehen. Er lächelte.
„Opi, Opi, Opi.“ Schrien sie im Chor, bis Jakob die Ohren klingelten. „Wir wollen ins Aquarium.“
„Ist das nicht etwas klein für Euch“, sagte Jakob. Und genoss den verwirrten Ausdruck der Jungs, bis der Groschen endlich fiel. „Nich’ das Aquarium Opi“, brüllte die beiden und lachten über ihren Urgroßvater. Irgendwann hatte jemand den zweien gesagt, dass alte Menschen schwerhörig würden, und Jakob hätte sich gern die Finger in die Ohren gesteckt, denn Sinne funktionierten noch ganz gut. Aber er brauchte seine Hände und all seine Kraft, um sich im Ansturm der beiden Wirbelwinde auf den Beinen zu halten.
„Wir meinen das in der Stadt. Das Große mit den Haien und Rochen“, belehrten sie ihn.
„Die beiden M&Ms möchten, dass Du mitkommst“, übersetzte Jana und legte ihm die Hand auf den Rücken. Jakob nickte langsam und lächelte, wie sollte er den Jungs was abschlagen.

Das Meerwasseraquarium war groß, ein Tunnel führte unter dem Haibecken hindurch zu einem Raum im Zentrum des Beckens. Hier ließ sich Jakob auf einer Bank nieder, während die Zwillinge ihre Gesichter gegen die dicken Plexiglasscheiben pressten und den Fischen zuwinken oder an die Scheibe klopften.
Hier konnte man sich klein fühlen zwischen den Weißspitzenriffhaien die ihre Kreise um die Besucher Zogen. Jakob stützte die Hände auf seinen Stock und schaute abwechselnd zu den Fischen und zu den beiden Jungs.
Jana setzte sich zu ihm und er sah in ihr Gesicht, das so viel von seiner Frau hatte, die Augen und die Nase. Aber Barbara war schon vor zehn Jahren gestorben. Jakob mochte nicht daran denken und schaute wieder auf den Hai der jetzt schon zum zweiten mal dicht an der Scheibe vorbeizog.
„Wie geht es dir?“, fragte Jana. Vielleicht sollte es beiläufig klingen, aber Jakob wusste, dass sie nicht hören wollte, dass es ihm gut ging.
„Großartig“, sagte er. Und er spürte, das sie ihm nicht glaubte. Volker (der Vater der Zwillinge) verfolgte seine Jungs, die sich plötzlich in den Kopf gesetzt hatte die Meeresschildkröten heimzusuchen.
„Wir treffen Euch bei der Eisdiele wieder“, Rief Jana ihnen nach. Max und Moritz jubelten.
Jakob schaute in das Blau des Beckens und dachte an den Tag zurück, als er selbst einmal eines dieser eleganten Tiere gesehen hatte, ohne dickes Glas zwischen ihm und dem Hai. Schnorcheln war er gewesen, vor gefühlten 1000 Jahren.
„Marlies hat mir erzählt …“
„Ich will nicht wissen, was Marlies erzählt hat.“
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Ich mach mir sorgen. Marlies kommt nur zwei mal am Tag. Das wird bald nicht mehr genügen.“
Jakob zuckte mit den Schultern, er wollte nicht darüber nachdenken. „Noch reicht’s.“
„Wenn das noch einmal passiert …“.
„Noch reicht’s“, wiederholte Jakob und presste die Lippen aufeinander er wollte nicht daran denken, wie hilflos er sich gefühlt hatte, als er im Bad hingefallen war und nicht hochkam, bis Marlies ihn am Morgen fand.
„Bitte nimm den Rollator. Wenigstens in der Wohnung, wenn Du allein bist.“
„Ja, schon gut“, brummte der alte Mann und dachte nicht daran, dieses Gerät auch nur aus dem Abstellraum zu holen.
„Denk noch mal drüber nach ins Heim zu gehen. Da hättest Du rund um die Uhr jemanden. Die Leute waren doch nett da.“
„Da stinkt’s nach Desinfektionsmitteln.“ Sagte Jakob zu den Haien. Er hatte gewusst, das es ein Fehler war die Seniorenresidenz Sonnenschein zu besuchen, er würde sich nicht noch einmal zu so etwas überreden lassen. Es wäre besser, dement zu sein, als gebrechlich. Dann würde er den ganzen Mist wenigstens nicht mehr so mitkriegen.
„Lass uns die Jungs suchen, sonst nehmen sie den Eisladen auseinander.“ Sagte er und bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Jana half ihm auf und Jakob war dankbar für die Hilfe - und er hasste es, sie zu brauchen.

Sie lieferten ihn wieder in seiner Wohnung ab. Die vollgefressenen Zwillinge waren schon auf der Rückfahrt eingeschlafen. Jana half ihrem Großvater bis in die Wohnung.
„Ach Du Scheiße?“, rief sie, als sie in Pfütze trat, die sich schon bis auf den Flur ausgebreitet hatte. Jakob starrte auf das Aquarium und den Sprung, der sich vorne durch das Glas zog. Von den 300 Litern war bestenfalls noch ein Drittel im Becken. Der Rest hatte seine Wohnung geflutet. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, seine Hände zitterten.
„Hol die Handtücher“, sagte er kontrolliert und machte einen Schritt auf die Katastrophe zu. Dann blieb er stehen, es gab nichts, gar nichts, das er tun konnte, währen das Wasser langsam durch die Dielen sickerte. Jana verteilte Handtücher, versuchte das Wasser mit den Putzlappen aufzunehmen und bekam gerade einmal den 20 Liter Eimer voll. Sie rannte zu den Nachbarn eine Etage tiefer. Sie wartete nicht auf den Fahrstuhl, sondern sprang die Treppe hinunter. Jakob schob einen Lappen mit seinem Stock hin und her, seine Finger hatten sich um den Griff verkrampft.
„Lasst mich bei Euch wohnen. Bis das wieder in Ordnung gebracht ist“, flehte er seine Enkeltochter an, als sie die Treppe wieder heraufkam.
Sie schaute ihn lange an, als ob sie tatsächlich darüber nachdenken würde. „Opa, wir haben den Platz nicht. Volker und ich Arbeiten. Es geht nicht. Ich ruf die Hausverwaltung an. Wenn wir schnell ein paar Raumtrockner installieren, muss der Boden vielleicht nicht rausgerissen werden.“
Jakob nickte langsam und seine Augen brannten, aber er wollte nicht vor seiner Enkeltochter weinen.
„Opa, es ist nicht für immer. Versprochen, nur bis Du hier wieder wohnen kannst. Ich weiß, wie sehr Du an der Wohnung hängst. Und das Aquarium kriegen wir auch wieder hin.“
Jakob hielt die Tränen nicht mehr zurück, aber sie flossen aus einem anderen Grund und er umarmte seine Enkeltochter. „Danke!“ flüsterte er.