Wie Phönix aus der Asche

Wie Phönix aus der Asche
18.09.2008, 17.14 Uhr
Aus Professor Klines Raum im Forschungsgebäude des Large Hadron Colliders schallte bei halb geöffneter Tür dessen ärgerliche Stimme: „Hierher hatte ich meine Mappe mit den Unterlagen zu den heutigen Versuchen gelegt.“ Dabei zeigte er anklagend auf den leeren Platz neben der Tastatur seines PCs. „Wo ist sie jetzt? Wer hat meine Aufzeichnungen mitgenommen?“
„Vielleicht haben Sie sie nur verlegt?“, versuchte Sybille Brown ihren Chef zu beruhigen. Immer musste er sich aufregen. Sie fand das höchst irritierend. Und es war gar nicht gut für sein Herz. Sie kannte ihren Chef nun schon seit zwei Jahren, und wäre dieses Projekt am LHC nicht gewesen, wäre er vor vier Wochen mit 69 Jahren in Pension gegangen.
„Nein! Vor fünf Minuten hab ich den Ordner hier hingelegt!“ Zur Bekräftigung schlug er mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch.
„Das ist vor zwei Tagen schon mit meiner Brille passiert!“
„Ja, und Sie haben sie in Ihrer Jackentasche wiedergefunden.“ Sybille verdrehte die Augen und tippte dann entschlossen weiter an ihrem Brief an den Forschungsrat. Sie wusste genau, wie zerstreut Professor Kline war. Jeden Moment…
„Oh, wie kommt denn die Mappe hierhin?“, fragte ihr Chef in verblüfftem Tonfall. „Wer hat die neben den Kopierer…“ Er schüttelte den Kopf.
19.09.2008, 18:09 Uhr
„Sybille, machst du schon wieder Überstunden? Du siehst erschöpft aus. Geh nach Hause, morgen ist auch noch ein Tag“, riss Ariane Vanderbilt die Sekretärin aus ihrer Konzentration. Sybille drehte sich zu der jungen Physikerin um.
„Hast du mich erschreckt. Ich habe dich gar nicht kommen hören. Gleich mache ich Feierabend.“
„Lass uns oben noch einen Kaffee zusammen trinken“, schlug Ariane vor. Die Büros und Laboratorien befanden sich alle unter der Erde.
Sybille lächelte. Ariane und sie hatten sich in den letzten Wochen angefreundet. Beide waren Mitte 30 und neu hier in der Nähe von Genf. Vor neun Tagen erst war der Startschuss für die Anlage gefallen. Bisher lief alles wunschgemäß.
„Übrigens gratuliere ich dir zu deinem zweiten Doktortitel. Ich habe vorhin davon gehört.“
„Danke, Sybille.“ Ariane lächelte zufrieden. „War ein hartes Stück Arbeit. Wir feiern das noch.“

20.09.2008, 13:02 Uhr
In der Mittagspause saßen sich Sybille und Ariane in der Kantine gegenüber. „Sybille, ich muss dir nach dem Essen was zeigen.“
„Was denn?“, fragte Sybille neugierig.
Ariane zog die Brauen zusammen und sah sehr nachdenklich aus. „Es ist alles sehr sonderbar. Sind bei dir im Büro in letzter Zeit Sachen verschwunden? Oder vermisste Gegenstände an ungewöhnlichen Orten wieder aufgetaucht?“
Sybille lachte. „Du kennst ja meinen Chef. Ständig verlegt er etwas und kann sich hinterher nicht daran erinnern. Geschweige denn, er würde es zugeben. Heute Morgen allerdings…“ Sybille machte eine Pause.
„Ist etwas Größeres verschwunden?“, half Ariane nach.
„Nein, es ist nicht wirklich etwas verschwunden. Seine Schreibtischlampe steckte in der Wand, wie eingemauert.“
Ariane runzelte die Stirn. „Das würde ich mir gerne mal ansehen.“
„Er sagt, er will seinen Raum überwachen.“
„Das ist keine schlechte Idee.“
Sybille stimmte ihr zu. „Vielleicht kommen wir so den Vorgängen auf die Spur. Erlaubt sich hier jemand dumme Scherze?“
„Es wäre gut, diese einfache Möglichkeit auszuschließen, bevor ich annehmen muss, dass hier etwas weit Gefährlicheres im Gange ist…“ Ariane verstummte und spießte ein Stück Fleisch auf, auf dem sie mechanisch herum zu kauen begann. Ihre Augen waren auf einen Punkt hinter Sybille gerichtet und sie schien in Gedanken weit entfernt zu sein. Ein paar Minuten brütete Ariane auf diese Weise vor sich hin und Sibylle störte sie nicht dabei. Dann aber fragte sie:
„Woran denkst du? Was meinst du mit gefährlich?“
Die junge Physikerin zuckte mit den Schultern. Ihr Blick wanderte zurück zu Sybille, doch sah sie sehr ernst aus.
„Nur so eine Idee von mir. Ich werde das weiter beobachten. Bist du fertig mit deinem Teller? Dann komm mal mit.“
Ariane führte ihre Freundin zu einer wenig benutzten Damentoilette im ersten Stock und öffnete ohne ein Wort die Tür. Sybille wich erstaunt einen Schritt zurück. „Was macht denn ein Kopierer h i e r ? Noch ein Streich? Wer ist denn auf so eine blödsinnige Idee gekommen?“
„Niemand, denke ich.“
„Aber Ariane, so ein Teil hat doch keine Beine…“
Ariane schüttelte nur den Kopf. Aus ihr war jetzt kein weiteres Wort mehr herauszukriegen.

20.09.2008, 18.42 Uhr:
Abends holte Ariane Sybille ab und die beiden Frauen verließen gemeinsam Sybilles Büro. Draußen begannen die Putzfrauen bereits mit ihrer Arbeit. Eine davon schob ihrem Wagen mit Reinigungsutensilien an ihnen vorbei. Sybille gähnte und folgte Ariane gedankenverloren zum Aufzug, wo sie warten mussten. Sybilles Augen folgten der Putzfrau, die das Linoleum fegte. Ein lauter werdendes Zischen unterbrach die abendliche Stille. Suchend blickte Sybille in die Richtung, aus der das Geräusch zu hören war. Sie runzelte irritiert die Stirn. Ihr Blick kreuzte den von Ariane, die fasziniert den Gang hinunter schaute. Das Zischen wurde lauter. Plötzlich durchzogen Dampfschwaden den Flur, ein Knall, der Aufschrei von drei Frauen – dann Stille.
Sybille fühlte den schmerzhaft festen Griff von Arianes Fingern um ihre Oberarme. Ebenso krampfhaft hielt sie die Arme der Freundin umklammert, immer noch starr vor Schreck. Sybille hatte die Augen fest zugekniffen. Sie wagte zunächst keine Bewegung. Ihr Herz raste, es kribbelte in ihrem Bauch und an ihren Beinen entlang als ob sie mitten in einem Ameisenhügel stünde. Und sie nahm einen sonderbaren Pfeifton wahr. Nach ein paar endlosen Sekunden öffnete die junge Sekretärin vorsichtig die Augen und schaute um sich. Sie sah die Putzfrau an ihren Besen geklammert auf dem Boden liegen und einen Dampfschleier, der sich in Richtung Decke langsam auflöste. Brandgeruch stach ihr in die Nase. Ein paar Deckenplatten waren herabgefallen.
„Wir müssen der armen Frau helfen“, sagte Sybille in ruhigem Ton, doch ihre Stimme zitterte. Mit wackligen Knien ging sie zu der Putzfrau herüber, die wie paralysiert dalag und sie anstarrte.
„Sind Sie verletzt? Verstehen Sie mich?“ Sybille kniete sich neben die Regungslose und fasste sie bei der Hand, die immer noch um den Besenstiel festgekrampft war. Da kam Leben in ihre Gesichtszüge und sie gab einen eigenartigen Laut von sich, irgendetwas zwischen einem Krächzen und einem Schrei.
„Kommen Sie, stehen Sie auf. Stützen Sie sich auf mich.“
Von der Frau am Boden kam keine Reaktion.
„Ariane, hilf mir hier mal!“, rief Sybille ärgerlich.
Ihr Blick schweifte zu Ariane herüber, in deren weit aufgerissenen Augen Faszination stand.
„Ariane! Ich brauche deine Hilfe!“
„Natürlich“, entgegnete diese und half ihrer Freundin, die Putzfrau wieder auf die Beine zu bekommen. Nachdem beide sie mehrfach gefragt hatten, hatten sie aus der Frau herausbekommen, dass sie Dunja hieß.
Zehn Minuten später hatte Dunja wieder ein wenig Farbe im Gesicht und war in Sybilles Begleitung im Fahrstuhl nach oben gefahren. Sybille drückte wieder den Knopf zur dritten Ebene zu Ariane herunter. Als sie den Lift verließ, sah sie Ariane ein paar Meter weiter den Flur hinauf vor dem verlassenen Putzwagen stehen. Es roch nach verbranntem Kunststoff.
„Was ist da?“, sprach sie die Physikerin an, doch diese gab ihr keine Antwort. Dem Blick der Freundin folgend entdeckte sie einen großen Fleck an der Decke und beim Näherkommen ein qualmendes Stück Plastik in der Mulde für den Putzeimer. Ariane schob den Putzwagen zur Seite und enthüllte damit ein Brandloch im Linoleum. Sie bückte sich, um die geschwärzten Spuren näher zu untersuchen.
Sybille betrachtete den Reinigungswagen mit einer Mischung von Unbehagen und Faszination. Die metallene Haltevorrichtung für den Eimer war teilweise geschmolzen und glomm in einem unheimlichen Dunkelrot. Je weiter sie sich näherte, desto heißer wurde es.

***

„Ariane, was passiert im LHC? Kannst du dir das erklären? Hat das was mit den Versuchen zu tun?“, fragte Sybille eine Stunde später, als sie gemeinsam in Arianes Wohnung noch einen Tee mit Schuss tranken – auf den Schreck. Ariane schüttelte langsam den Kopf.
„Ich habe schon darüber nachgedacht. Noch kenne ich nicht alle Fakten. Morgen frage ich mal rum, ob sonst noch etwas Ungewöhnliches passiert ist. Aber 15 Liter Wasser verdampfen nicht einfach so. Man braucht etwa 40 Megajoule an Energie dafür. Und die müssen ja irgendwo hergekommen sein. Es würde mich nicht wundern, wenn irgendwo in der Nähe etwas eingefroren wäre.“
„Eingefroren? Wieso eingefroren?“
„Ich denke, es handelt sich um Quantenphänomene. Warum sie aber im Makrobereich auftreten anstatt wie sonst im Nanometerbereich… das ist eigentlich unmöglich. Jetzt werde ich erst mal Professor Kline anrufen.“
21.09.2008, 11:48 Uhr
Ariane verließ den Konferenzraum, in dem sie gerade mit den Kollegen debattiert hatte. Alle bisherigen ungewöhnlichen Begebenheiten waren diskutiert worden und Arianes Ansicht wurde von der Mehrheit ihrer Kollegen geteilt. Sie hatte die gestrigen Ereignisse geschildert und gefragt, ob zeitgleich irgendwo Frost aufgetreten war. Dabei hatte sich herausgestellt, dass auf der dritten Ebene seit gestern Abend eine Toilette eingefroren war, nur wenige Meter neben dem Aufzug. Ariane schlug den Weg dorthin ein.
Ein Schild hing vor der Tür. „Wartungsarbeiten“. Sie betrat die Räumlichkeiten dennoch. Es war ein ganz gewöhnliches Männerklo mit Urinalen an der einen Wand und drei Kabinen gegenüber der Tür. Aus einer der Kabinen lugte nun ein Mann hervor, der in einen schmierigen Overall gekleidet war.
„He, können Sie nicht lesen?“, wurde sie von einer tiefen Stimme angefaucht, die im Raum widerhallte.
„Ich bin Ariane Vanderbilt.“
„Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht in der Tür geirrt haben?“, fragte der Mann überrascht und schon bedeutend freundlicher.
„Ich werde mir anschauen, was hier passiert ist.“
„Eine gefrorene Toilette? Das letzte Mal habe ich sowas als Wartungstechniker in der Südpolstation gesehen.“
Er erhob sich und rollte den Einmalhandschuh aus Silikon von seiner Rechten, die er ihr dann reichte. „Laurent Lefevre, Wartungsingenieur für das ganze LHC. Tut mir leid, dass ich Sie so unfreundlich begrüßt habe. Ich habe nicht mit dem Besuch einer schönen Frau gerechnet. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Er hatte einen angenehm festen Händedruck und er lächelte. Ariane erwiderte beides. Dann fragte sie: „Was ist hier genau passiert?“
Laurent wendete sich wieder der Kabine zu. „Die Wasserleitung und das Wasser im Toilettenbecken sind zugefroren. Ich muss das langsam wieder auftauen, sonst gibt es Risse.“
Ariane runzelte die Stirn. „Haben Sie noch so ein Paar Handschuhe?“, fragte sie. Laurent reichte ihr welche, die er aus einer Tasche seines Overalls zog und beobachtete neugierig, wie sie neben der Toilette niederkniete und diese untersuchte.
„Danke für Ihre Zeit.“, sagte sie dann und lächelte Laurent im Herausgehen an. Dieser lächelte zurück und blickte ihr nach. Ein zarter Hauch ihres Parfüms blieb zurück. Laurent blieb mehrere Sekunden wie gebannt stehen, bevor er den Kopf schüttelte und wieder an seine Arbeit ging. Ariane hieß sie. Er würde sie wiederfinden.
Ariane schlief schlecht in dieser Nacht. Sie träumte wirres Zeug und fühlte sich müde und zerschlagen, als sie erwachte. Immer wieder war Laurent in ihren Träumen aufgetaucht. Irgendetwas hatte er an sich, dass sie ihn nicht vergessen konnte.
21.09.2008, 12.16 Uhr
Ariane holte Sybille aus ihrem Büro zum Essen ab. Diesmal war Sybille sehr nachdenklich, runzelte verwirrt die Stirn.
„Ariane, ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber mir gehen schon den ganzen Tag Erinnerungen durch den Kopf. Aber es sind nicht meine Erinnerungen, obwohl sie aus meinem Gedächtnis kommen… ich verstehe das nicht. Es ist, als ob es eine zweite Sybille gäbe, die das alles erlebt hat, an das ich mich jetzt erinnere. Werde ich verrückt?“
Ariane schaute die Freundin nachdenklich an.
„Mir geht es seit gestern Nacht genauso. Manchmal kommen fremde Gedanken dazu, die einer anderen Ariane. Ja, ich denke, du hast das sehr treffend ausgedrückt. Ich fürchte…“
Sie unterbrach sich, denn es klopfte an der Tür. Die beiden Frauen sahen sich überrascht an.
„Herein!“, rief Ariane. Die Tür öffnete sich und – Laurent trat ein und zog sie hinter sich wieder zu. „Hallo, schöne Frau. Ich mache jetzt Pause und ich dachte, wir könnten zusammen essen. Wenn Sie nicht die Gesellschaft ihrer Freundin bevorzugen…“ Er grinste und sah sie gedankenverloren an. Ariane lachte verlegen und errötete. Es verwirrte sie, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, er war ihr vertraut, obwohl sie ihn doch gar nicht kannte. Bilder drängten sich in ihren Kopf, ein Gefühl von Wärme und ein Kribbeln in ihrem Bauch. Sie strich sich über die Stirn, um die unpassenden Gedanken zu verscheuchen. Laurent Lefevre war ihr völlig fremd, wieso reagierte sie emotional so stark auf ihn? Auf Sybilles fragenden Blick hin sagte sie: „Sybille, das ist Laurent Lefevre, der Wartungsingenieur, der gestern die Herrentoilette wieder aufgetaut hat. Dort habe ich ihn kennengelernt.“
„Der was gemacht hat? Seit wann machst du Bekanntschaften auf Herrentoiletten?“
„Sie haben da eine recht unkonventionelle Freundin, Miss Brown.“
„Woher wussten Sie, wo ich bin?“, fragte Ariane.
„Ich habe mich nach Ihnen erkundigt. Wollen wir…?“ Er zeigte mit dem Daumen hinter sich.
Sybille öffnete die Tür zum Flur. Während sie den Fuß auf die Öffnung zubewegte, drehte sie den Kopf zu Ariane um. „Das ist ein ziemlich netter Typ…“, flüsterte sie anerkennend.
„Vorsicht!“, rief Ariane, packte sie an der Schulter und riss sie zurück. Verblüfft schaute Sybille in die vor Entsetzen geweiteten Augen ihrer Freundin. „Was…“, brachte sie hervor, dann wendete sie den Kopf wieder zur Türöffnung. Was sie sah, war ein gähnender Abgrund. „Wo ist denn der Rest von unserem Gebäude?“, flüsterte Ariane. Laurent blickte an ihr vorbei, genauso fassungslos wie die beiden Frauen. Nach oben blickten sie in den freien Himmel, nach unten auf ein Chaos von Betonbrocken, verbogenen Stahlträgern und zerfetzten Teilen von menschlichen Körpern. Es war eine Szenerie wie aus einem apokalyptischen Alptraum.
„Mein Gott. Das ist ja grauenhaft. Sind sie alle tot?“, fragte Sybille entsetzt. Ihr Herz schlug wild gegen ihre Rippen. Aber Ariane war genauso verwirrt wie sie selbst und sah sehr blass aus.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Laurent praktisch.
„Das Telefon!“, schlug Sybille vor. Ariane hob den Hörer an, wählte eine Nummer und lauschte. „Tot!“, stellte sie nüchtern fest.
„Gibt es hier noch einen zweiten Ausgang?“
„Nein“, antwortete Sybille. „Nur die Tür zu Professor Klines Arbeitsraum.“
Ohne ein weiteres Wort ging Ariane zu der Tür und öffnete sie vorsichtig. Auch von hier aus konnte sie zwei Ebenen tiefer sehen. Die Zwischendecke war noch da, wie ein Dach über der sechsten Ebene. Auch hier lagen überall Leichenteile und Blut bildete rote Flecken auf den Steinen. Sie standen auf einem Turm und waren von jeder Hilfe abgeschnitten.
„Wir müssen uns abseilen.“, schlug Ariane vor.
„Und womit? Hat eine von euch ein Seil dabei?“
„Der Feuerwehrschlauch in der Wand“, sagte Sybille und öffnete eine Luke neben der Tür, die früher zum Flur geführt hatte.
Laurent prüfte den Schlauch durch Ziehen auf seine Festigkeit.
„Das könnte gehen.“, erklärte er dann.
„Etwas anderes haben wir nicht.“, meinte Ariane pragmatisch. „Ich bin die Leichteste von uns. Laurent, lassen Sie mich vorsichtig hinunter.“
„Ich seile Sie an. Und ich werde Sie halten, ich bin Bergführer.“
Er schlang Ariane das Behelfsseil um die Taille und ließ dann den Rest des Schlauches diagonal hinter seinem Rücken entlang laufen. Ariane zog ihre Pumps aus und ließ sich langsam über die Kante gleiten. Die Füße stemmte sie gegen das zerbrochene Mauerwerk, das unter dem Druck rieselte. Die ersten Meter ging das ganz gut, dann aber begann sie sich hin und her zu drehen und zunehmend zu pendeln. Unsanft stieß sie mit der Seite gegen die unebenen Kanten der Zwischenwand, fing sich mit der Schulter ab und fluchte über den Schmerz.
„Langsam!“, rief Laurent ihr von oben zu. „Sie machen das sehr gut, Ariane. Halten Sie sich fest und versuchen Sie sich an der vertikalen Zimmerwand entlang herab zu greifen. Und passen Sie auf Ihren Kopf auf!“
Ariane stabilisierte mühsam ihre Haltung, dann rief sie: „Ich versuch‘s ja!“ Ihre rechte Schulter schmerzte immer noch vom Zusammenprall mit der Mauer. „Weiter!“, kommandierte sie. Laurent gab Seil nach, aber langsamer als bisher. Und Ariane bekam ihre Bewegungen besser in den Griff. Sie erinnerte sich an Klettertechniken, die sie nie gelernt hatte.
Bald war sie eine Etage tiefer, aber auch dort sah sie keinen lebenden Menschen. So musste sie noch weiter nach unten steigen. Plötzlich, nur wenige Meter über der Zwischendecke, ging es nicht mehr weiter. Zu tief, um zu springen. „Laurent?“, rief sie. „Ich brauch mehr Seil!“
„Es ist nicht mehr Seil da!“, klang es dumpf von oben.
Ariane schwang sich pendelnd zur nächsten Mauer, klammerte sich mit den Beinen daran fest und löste den Schlauch um ihren Körper.
„Ariane, sei vorsichtig!“, erscholl ein Ausruf von oben. Sybille.
Aber Ariane gab keine Antwort, sie sparte ihre Konzentration und ihren Atem für die vor ihr liegende Aufgabe. Das Ende des Schlauches um eine Hand geschlungen, kletterte sie noch einen Meter tiefer. Jetzt trennten sie noch etwa drei Meter von ihrem Ziel. Sie musste frei klettern. Aufs Äußerste konzentriert wagte sie den Weg nach unten. Angst spürte sie nicht. Das Mauerwerk war etwas bröckelig und mehrmals wäre sie beinahe abgerutscht, aber schließlich kam sie wohlbehalten auf der sechsten Ebene an. Von oben erschollen Jubelrufe. Sie winkte Laurent und Sybille zu, die oben an der Kante standen. Sybille hielt immer noch die Hände vor den Mund gepresst.
21.09.2008, 13.28 Uhr
Ariane verließ die fünfte Ebene durch den „Turm“ und fuhr mit dem Lift zur sechsten Ebene hinab. Der Flur war wie leergefegt. Sie lief ein Stück weit hinauf, überlegend, was sie tun sollte. Da erfasste sie ein so heftiger Schwindel, dass sie sich an der Wand festhalten musste. Nur langsam klang das Gefühl ab. Ariane nahm jetzt ein rotes Leuchten wahr, aus dem sich allmählich eine menschliche Gestalt formte. Staunend sah sie – sich selbst. Eine in rötliches Licht getauchte Ariane, die den Mund bewegte und sie fasziniert anstarrte. Wie war das möglich? Ariane glaubte es zu wissen. „Ein anderes Universum!“, flüsterte sie ehrfürchtig. „Parallel zu dem, das ich kenne.“
„Hallo!“, erscholl es dumpf von ihrem Ebenbild, das eine Hand an die Grenze der beiden Paralleluniversen zu legen versuchte. Ariane kam ihrer „Zwillingsschwester“ mit ihrer Hand entgegen, doch konnte sie die Barriere nicht völlig durchdringen. „Ariane!“, rief sie fasziniert. „Du schaust in mein Universum und ich in deines.“
„Parallele Welten?“, fragte es undeutlich. Es klang begeistert.
„Ja, parallele Welten. Wir teilen Erinnerungen. Ich weiß zum Beispiel, dass du eine passionierte Bergsteigerin bist. Ich kann mich an deine Erfolge erinnern.“
„Und du hast gerade deinen 2.Doktortitel abgeschlossen. Bei mir wird das noch dauern, aber ich konnte mich heute Morgen daran erinnern, dass ich die Arbeit abgeschlossen habe…“ Die rote Ariane runzelte die Stirn.
„Wo bist du jetzt?“
„In meinem neuen Labor im LHC bei Genf.“
„Welcher Tag?“
„10.September 2008, warum?“
„Ariane, du kannst es noch verhindern! Es wird sich eine neue Dimension ausrollen, wenn der LHC in Betrieb geht! Du musst dafür sorgen, dass die Anlage nicht ohne nochmalige Überprüfung anläuft.“
„Aber sie ist heute angelaufen…“
„Bis zum 19.September muss alles stillstehen, hörst du? Von da an wurde es immer schlimmer.“
„Was geschieht mit euch? Wie kann ich euch helfen?“
„Rette wenigstens deine Welt, meiner ist wohl nicht mehr zu helfen!“
„Aber…“
„Ariane, hör mir jetzt gut zu: In der Wartungstechnik arbeitet ein gewisser Laurent Lefevre. Er wird dir helfen. Er ist dein Freund, nicht wahr?“, fragte sie, sich plötzlich erinnernd. Die rote Ariane nickte verblüfft. Ariane 1 fuhr fort: „Ebenso deine und meine Freundin Sybille Brown, die Sekretärin von Professor Kline. Ihr müsst die Anlage sabotieren, damit alles noch einmal überprüft wird. Es ist eure einzige Chance! Bis 19.September…“
Die rote Ariane nickte und bewegte die Lippen, jedoch war nicht mehr zu verstehen, was sie sagte. Das Bild verschwamm, aber ganz kurz konnte Ariane die Hand der anderen Ariane durch die Grenze der Universen ergreifen. Es fühlte sich an wie ein heftiger Stromschlag, aber es machte Ariane unendlich glücklich. Vielleicht würde ihre Welt nicht mehr lange bestehen, doch sie hatte ein anderes Universum berührt. Und vielleicht hatte sie dazu beigetragen, es zu retten.
Erschöpft sank sie zu Boden. Ein paar Minuten ruhte sie aus, dann rappelte sie sich auf und lief die ganze Ebene ab, doch fand sie alles leer und verlassen vor. Laurent, Sybille und sie selbst schienen die einzigen Überlebenden im ganzen Gebäude zu sein.
Sie lief zurück zum Turm.
„Kommt ihr jetzt nach!“
Sybille kam als nächste. Kaum aber war sie ein paar Meter nach unten gelangt, begann der Turm zu beben. „Vorsicht!“, rief Ariane. Auch Sybille schrie auf, denn das Seil gab plötzlich ein Stück nach, weil Laurent gestürzt war. Ein großer Betonbrocken fiel auf Sybille herab und traf ihren Kopf. Ihr Körper pendelte leblos hin und her.
„Nein!“
Nur dieser Schrei ertönte aus den Kehlen der beiden einzigen Menschen, die noch am Leben waren. Dann war es still.
Laurent kletterte behände von dem bröckelnden Turm.
„Komm!“, rief er Ariane zu, die immer noch zu Sybilles Leichnam emporblickte, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten.
„Wir können sie doch nicht einfach hierlassen!“, schluchzte sie verstört.
„Wir können ihr nicht mehr helfen, aber wenn wir zu lange warten, sterben wir unter den einstürzenden Trümmern!“
Er zog die widerstrebende Ariane schnell zum Eingang des Fahrstuhls, während um sie herum Teile des Turmes auf die Zwischendecke fielen. Beide erreichten sie die Ebene und verließen den Fahrstuhl gerade noch rechtzeitig, bevor das Gemäuer über ihnen völlig einstürzte. Laurent drückte die zerzauste Ariane an sich und ließ ihr Zeit, sich wieder zu fangen.
Später saßen sie Arm in Arm auf einem bequemen Sofa in einem der Aufenthaltsräume. Laurent versuchte, die Flut von Bildern in seinem Kopf zu ordnen, die ihm in den Sinn kamen, sobald er Ariane anblickte. Eine Ariane, die nur in ihre langen Haare gehüllt zu ihm gekommen war…
„In der anderen Welt bist du meine Geliebte.“, flüsterte Laurent sehnsuchtsvoll.
„Ich weiß!“, nickte Ariane, die sich ebenfalls erinnerte. An Bergtouren, Sonnenuntergänge zwischen Gipfeln, einsame Zeltlager in klirrender Kälte und die einzige Wärmequelle weit und breit. Sie sahen einander tief in die Augen. Beide wussten, dass ihnen nur noch wenig Zeit blieb. Und in der Süße des Kusses, zu dem sich ihre Lippen fanden, als hätten sie nie etwas anderes getan, erkannten beide, wie sie diese Zeit nutzen wollten.
Paralleles Universum, 10.September 2008, 14.38 Uhr
Ariane hatte kurz eine Hand berührt, die aus einer anderen Welt stammte. Das Erlebnis hatte sie tief berührt. Ihr Zwilling aus der Parallelwelt hatte furchtbar ausgesehen: zerkratzt, die Kleidung zerrissen, verdreckt. Wie aus einem Kriegsgebiet, dachte sie erschüttert. Offenbar hatten die Versuche im LHC in der Welt ihres Zwillings das Tor in weitere Dimensionen geöffnet. So interessant das vom wissenschaftlichen Standpunkt auch klang, erleben wollte sie die Konsequenzen nicht. Aber die Erkenntnisse, die die andere Ariane ihr vermittelt hatte, das Gedächtnis, das sie immer noch teilten: sie würde ihrer Welt ein solches Schicksal ersparen und gleichzeitig die wissenschaftliche Erkenntnis mit allen teilen. Sie hatte endlich ein Thema für ihre zweite Doktorarbeit gefunden.
Parallelwelt, 10.September 2008, 20.34 Uhr
Ariane hatte Laurent ihr Erlebnis erzählt. „Was hältst du davon?“, fragte sie ihn ernst.
Laurent seufzte. „Ich habe auch seltsame Träume gehabt von mir in einer anderen Welt, in der ich dich gerade erst kennengelernt habe. In der du keine Bergtouren mit mir gemacht hast. Von einer Welt, die kurz vor dem Untergang stand. Ich glaube, wir müssen das ernst nehmen. Ich schau mir morgen mal die Baupläne des LHC an. Dann finden wir einen Schwachpunkt, um die Anlage außer Betrieb zu setzen. Bis zum Neunzehnten, hast du gesagt?“
Ariane nickte.
Parallelwelt, 11.September 2008, 13.05 Uhr
In der Kantine saßen Ariane und Laurent dicht nebeneinander. Sybille saß gegenüber, weit vornüber gebeugt, und runzelte die Stirn. „Ich dachte schon, ich fange an zu spinnen!“, raunte sie den anderen zu. „Ich verstehe zwar nicht alles, was du sagst, Ariane, aber ich glaube dir. Es ist dein Fachgebiet.“
„Der Kühlwasserkreis!“, warf Laurent halblaut ein. „Das ist die Schwachstelle der Anlage. Da können wir unauffällig ansetzen.“
Parallelwelt, 19.September 2008
Wegen einer Beschädigung im Kühlsystem mussten die Versuche im neuen LHC nach nur neun Betriebstagen vorübergehend eingestellt werden.
Epilog
Die ganze Anlage wurde im Verlauf der nächsten eineinhalb Jahre überprüft und verbessert. Erst am 30. März 2010 wurden die Strahlen wieder fokussiert; die ersten Proton-Proton-Kollisionen wurden um 12.58 Uhr MESZ registriert. Und die Anzahl der Zusammenstöße war bis 17 Uhr auf eine halbe Million angewachsen. Die Verantwortlichen erklärten sich sehr zufrieden mit dem Erfolg.