Überleben

Unbarmherzig stach die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Peter Carter war erschöpft. In seinem Kopf jedoch flüsterte es dringlich: „Rudere! Du musst weiter rudern!“ Seine schwieligen Hände ergriffen die Riemen wieder, auch wenn ihm eigentlich klar war, wie wenig er damit ausrichtete. Jetzt war er bereits den dritten Tag im Ruderboot auf der Celebessee, aber die Angst saß ihm immer noch im Nacken. Schemenhaft waren Inseln zu sehen. Das Wasser war hier stellenweise sehr flach, dafür gab es Strömungen, die es nicht zuließen, dass Peter ein Eiland erreichen konnte. Es war zum Verzweifeln. Langsam ging sein Wasservorrat zur Neige und dieser Rest war modrig und roch wie Bilgenwasser. Vom Schiffszwieback hatte er schon seit gestern keinen einzigen Krümel mehr. Fische fangen wäre zu gefährlich gewesen, weil jeder Blutstropfen im Wasser gleich ein Dutzend Haie angelockt hätte. Warte nur, Peter, sagte er sich, auf der Insel, die du finden wirst, hast du frisches Wasser und Früchte und du kannst dir etwas zu essen jagen. Und ein Dutzend nackte Frauen werden um dich tanzen und dir jeden Wunsch erfüllen. Er lächelte glücklich. Jeden Wunsch…
Seine Gedanken waren abgedriftet und er selbst in einen leichten Schlummer hinübergeglitten. Plötzlich schreckte er auf, denn es standen ihm wieder die Bilder der furchtbaren Ereignisse vor Augen, die ihn bewogen hatten, das letzte der Boote zu entern und sein Heil auf dem Meer zu suchen…
Vier Wochen zuvor:
Am 06.August 1671, legte das stolze Schiff „Santa Anna“ in Shanghai an. Brütende Sommerhitze lag über der Metropole und die ungesunden Ausdünstungen der Stadt waberten auch zum Hafen hinunter.
„Lasst uns die Baumwolle und die Seide schnell an Bord bringen, sonst holen wir uns hier alle noch den Tod!“, sagte der Kapitän und der Steuermann nickte. Peter stand in der Nähe und stimmte im Stillen dem Kapitän bei. Er wusste nur zu gut, was solche Miasmen anrichten konnten.
„Peter, fass doch mal mit an!“, rief der alte Sam ihm zu. „Der Ballen ist zu schwer für m… – au, verdammt!“
„Was ist denn passiert?“, fragte Peter.
„Verdammte Flöhe!“, fluchte Sam und kratzte sich den Arm.
Der Steuermann blickte zu ihm hinüber und lachte. „Das müsstest du doch gewohnt sein! Wirst schon nicht gleich dran sterben!“
Sam warf ihm einen giftigen Blick zu. Dann aber brachte er mit Peter einen Ballen nach dem anderen an Bord. Sam war der einzige an Bord, mit dem Peter sich gut verstand. Sam hatte ihn schon öfter vor den groben Scherzen der restlichen Mannschaft in Schutz genommen, denn Peter war der Jüngste an Bord, der Benjamin. Sam hatte es auf sich genommen, Peter auszubilden und Peter sah zu dem alten Mann auf, der in der knappen Freizeit so gut Geschichten zu erzählen verstand und ihm geduldig alles beibrachte, was ihm half, seine erste Fahrt lebend zu überstehen. Für Sam würde es wahrscheinlich die letzte Fahrt werden, denn als sie vor einem halben Jahr in London angeheuert hatten, war es für Sam schon schwierig geworden, noch einmal mitgenommen zu werden. Erst als ein schon angeheuerter Matrose kurz vor dem Auslaufen von einem schweren Fuhrwerk angefahren worden war, hatte Sam seine Chance bekommen. Dafür wurde ihm aber auch gleich die für alle anderen als lästig angesehene Aufgabe übertragen, sich um Peter zu kümmern.
Zwei Tage später waren sie schon wieder auf See. Nach den gefährlichen Miasmen der Stadt war Peter froh über den frischen Wind, der nach Salz und Tang roch, und sie machten gute Fahrt auf dem Weg nach Batavia.
Vier Wochen würden sie für die Fahrt brauchen, sagte der Steuermann. Der Wind stand günstig, es war heiß und es deutete nichts auf Stürme hin. Nichts ließ das Unglück ahnen, welches sich schon vorbereitete. Peter und Sam versahen Ihren Dienst in gewohnter Disziplin. Da brach Sam etwa zehn Tage nach dem Ablegen beim Deckschrubben in einer Nische der Kabinen zusammen. „He, Sam, was ist los mit dir?“, fragte Peter, der als einziger in seiner Nähe war, stürzte zu ihm hin und brachte ihn durch Klopfen auf seine Wangen wieder zu Bewusstsein. Sam richtete sich mühsam auf und schüttelte seinen Kopf. „Mir war eben so schwindlig. Bin ich…?“
„Ja, du bist umgekippt.“
„Hat es außer dir noch jemand gesehen?“, fragte Sam und schaute ängstlich um sich. Da er schon fast fünfzig Jahre zählte, also ein alter Mann war, fürchtete er nichts mehr als Schwäche zu zeigen. Das hatte er Peter einmal anvertraut.
„Nein, nur ich“, antwortete Peter, sah sich aber instinktiv auch um. Sie waren allein. Sam lehnte noch einen Moment mit geschlossenen Augen an der Kabinenwand.
„Geht es dir jetzt besser?“, fragte Peter und beobachtete Sam ängstlich.
„Klar, mein Junge. Nur einen Moment.“ Er öffnete die Augen, sah Peter in die Augen und flüsterte: „Das ist das Alter. Und die Hitze. Verstanden? Und dass du den Vorfall nur ja keinem erzählst! Sonst gerbe ich dir das Fell, dass du ein paar Tage nur noch stehen kannst!“
Peter grinste. Solche Strafandrohungen hatte er schon öfter von Sam gehört, aber der gutmütige Sam hatte sie nie durchgeführt. Peter beobachtete Sam genau in den nächsten drei Tagen, aber alles schien in Ordnung zu sein. Der Schwächeanfall wiederholte sich nicht.
Bis eines Morgens Sam nicht zum Dienst antrat. Peter fand ihn in seiner Hängematte liegend. Trotz seines wettergebräunten Gesichtes war alle gesunde Farbe aus seinen Wangen gewichen und hatte der Röte des Fiebers Platz gemacht. Als Peter ihn anfasste, erschrak er darüber, wie heiß Sams Körper war. Peter versuchte Sam Wasser einzuflößen, aber der Kranke erbrach es sofort wieder.
Am nächsten Tag begann Sam zu husten, und er hatte offensichtlich große Schmerzen, denn er wand sich stöhnend in seiner Hängematte. Das Fieber ließ ihn Wahngesichte sehen und er war kaum bei Bewusstsein. Große schwarze Furunkel pulsierten am Hals und in den Achseln. Als Peter diese Geschwulste sah, erfasste ihn blankes Entsetzen. Er hatte diese Krankheitszeichen schon einmal gesehen, damals, vor sechs Jahren, in London. Seine Eltern und vier seiner Geschwister waren damals daran gestorben. Sam hatte die - Pest! Von Grauen geschüttelt wich Peter zurück. Er wusste, dass er hier nicht wirklich helfen konnte. Dennoch versorgte er Sam, so gut er konnte: er befeuchtete ihm die Lippen, er wischte ihm den Schweiß ab. Dennoch starb Sam in der darauffolgenden Nacht. Die Miasmen in Shanghai mussten es gewesen sein! Im Laufe des nächsten Tages lagen vier weitere Matrosen und der Kapitän krank darnieder. Ein Boot war bereits in der Nacht verschwunden, ein Teil der Mannschaft hatte sich damit abgesetzt. Das Meer war hier voller Inseln, die Chance zum Überleben gut.
Als bis zum Ende des folgenden Tages noch weitere sechs Mann krank wurden, fasste Peter einen Entschluss: Heimlich ließ er das Boot zu Wasser, verstaute etwas Schiffszwieback und Trinkwasser darauf und stieß von der Bordwand ab.
So verbrachte Peter seine Zeit mit Rudern und Dahindämmern. Kopfschmerz und Schwindel erfassten ihn noch in der darauffolgenden Nacht. Am nächsten Tag hatte er Fieber und lag mehr im Boot, als dass er saß. Ein vorüberfahrendes Handelsschiff wollte den vermeintlich Schiffsbrüchigen an Bord nehmen, aber als sie die Geschwüre bei ihm sahen, stießen sie das Boot mit dem Kranken wieder zurück aufs Meer. Zwei Wochen später begegneten sie einem Geisterschiff mit dem Namen „Santa Anna“.