Die Magische Käsekugel

„Welcher Idiot hat hier gerade die Notbremse gezogen?“
Die Augenbrauen des Schaffners bildeten einen drohenden schwarzen Balken in seinem sonst so gutmütigen Gesicht. Erschrockenes Schweigen seiner beiden Fahrgäste quittierte diese Frage.
„Wer von euch?“, wiederholte er langsam. Sein Blick glitt zwischen dem Mädchen und dem Jungen hin und her. Das Mädchen starrte ihn aus weit aufgerissenen winterblauen Augen an. Ihre rechte Hand hielt ihre kleine Handtasche wie ein Schild, ihre Linke zerdrückte fast einen Becher mit Mineralwasser. Der Junge hielt eine rote Leine in der Hand, die in den dunklen Bereich unter der Sitzbank führte. Mitten in der Stille tauchte geräuschvoll schnaufend die Schnauze eines Erdferkels aus dem Schatten. Geistesabwesend senkte dessen Besitzer die Erdnuss, die zwischen der geöffneten Tüte auf seinem Schoß und seinem Mund schwebte. Das Tier quiekte begeistert und balancierte die Nuss auf seiner rosa Zunge in sein Maul.
Wider seinen Willen hoben sich die Mundwinkel des Schaffners zu einem breiten Grinsen. Die Kinder sahen ihn gar so ertappt an und mit einem Erdferkel hatte er nicht gerechnet.
„Es war eine…“ Der Junge zog zischend den Atem ein, weil das Mädchen ihn böse anschaute und ihm auf den Fuß trat.
„Er wars“, behauptete der Junge dann und deutete auf das Tier, welches gerade versuchte, sein rechtes Hinterbein aus der Umschlingung der Leine zu befreien.
„Unsinn!“
Der Schaffner versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, doch das Skurrile der Situation weckte seinen Sinn für Humor und kitzelte ihn innerlich. Dann fiel ihm der Grund für seinen Ärger wieder ein.
„Das ist eine ernste Sache“, erklärte er bedächtig. „Bei der plötzlichen Bremsung ist meine Box mit Käsekugeln umgefallen. Jetzt rollen sie durch den ganzen Führerstand.
„Ist das so schlimm?“, wagte das Mädchen zu fragen.
„Es sind magische Käsekugeln. Sie schimmern im Dunkeln und jede erfüllt einen Wunsch. Aber nur, solange sie leuchten und das tun sie jetzt nur noch ein paar Minuten. So schnell kann ich nicht genug Wünsche finden und wenn ein Wunsch verfällt, verlieren die übrigen Kugeln ihre Magie.“
„Wir können ja beim Wünschen helfen“, schlug das Mädchen schüchtern vor. Hoffnung leuchtete in ihren Augen.
„Wer von euch?“
„Erst die Wünsche, damit keiner verfällt. Dann sagen wir es Ihnen!“
„Na gut“, stimmte der Schaffner zu. „Aber die Wünsche dürfen nicht für euch selbst, sie müssen für jemand anderen sein!“
******************
„Wer von euch war so klug, die Notbremse zu ziehen?“, fragte der Schaffner. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, aber sein Tonfall klang erleichtert.
„Ich!“, antwortete das Mädchen und trank Mineralwasser aus einem Becher. „Wollen Sie auch einen Schluck? Sie sehen so blass aus.“
„Gerne“
Dankbar leerte er den Becher mit einem Zug.
„Woher hast du gewusst, dass die Gleise vor uns aufgerissen sind? Ich habe schon in der Leitstelle Bescheid gesagt. Nicht, dass noch ein Unfall passiert…“
Unter der Bank erschien der Kopf eines Erdferkels. Der Junge, der es an einer roten leine hielt, gab ihm eine Erdnuss.
„Ich bin gleich wieder bei euch“, erklärte der Schaffner und verschwand für ein paar Minuten. Als er wiederkam, reichte er jedem der beiden Kinder etwas Kleines Rundes.
„Zum Dank für eure Hilfe schenke ich jedem von euch eine magische Käsekugel. Sie leuchten, wenn sie an die Luft gelangen. Solange ihr das sehen könnt, dürft ihr euch was wünschen. Es muss aber für jemand anderen sein. Lasst keinen Wunsch verfallen, sonst verlieren sie alle ihre Magie.“
„Danke“, antworteten der Junge und das Mädchen wie aus einem Mund.
„Komisch nur, dass die Box beinahe leer ist…“
der Schaffner runzelte nachdenklich die Stirn.
„Heute Morgen war sie noch fast voll…“