Auf den Gleisen

Die Nacht brach herein und die ersten dicken Tropfen landeten kalt in Ronalds Nacken. Er schlug die Kapuze hoch, um seine Haut vor dem sauren Wasser zu schützen.

Seine Füße schmerzten vom Laufen über den rauen Schotter und die groben Schwellen, aber er wollte nicht runter von den Gleisen, aus Angst, seinen Weg zu verlieren.

Zwei Tage war Ronald schon unterwegs, sein Magen knurrte und in der Colaflasche in seinem Rucksack schwappte nur noch ein trauriger Rest Flüssigkeit.

Es konnte nicht mehr weit sein, bis zur nächsten Stadt. Dann musste er wieder Seitenstraßen und Schleichpfade suchen, denn sein Bild zierte Steckbriefe von Washington D. C., bis Boston.

Oder, was von diesen Städten nach dem Tag X übrig geblieben war.

Der Wind nahm zu und Ronald senkte den Kopf, bereits jetzt brannten seine Wangen und Hände, wo der Niederschlag sie traf.

Bevor er die thermonuklearen Sprengköpfe gezündet hatte, schien alles so einfach gewesen zu sein. Ein Blitz und er wäre Dampf. Aber seine Bombe explodierte nicht. New York blieb verschont und Ronalds leben auch.

Wie angewiesen hatte er den Revolver in den Mund gesteckt, genau, wie es vorgeschrieben war, sollte etwas schief gehen.

Aber sein Radio war still geblieben und das konnte nur bedeuten, dass sie anderen beiden Atomraketen explodiert waren. Und es bedeutete, das niemand mehr da war, den es interessierte, ob er noch lebte oder starb.

Stunden hatte er an dem CB-Funkgerät gesessen und in das Rauschen gelauscht, aber es kam keine Antwort auf seine Rufe.

Gegangen war Ronald erst, als er hörte, wie über ihm die Tür von einem SWAT-Team aufgebrochen wurde, durch die Versorgungstunnel der Universität war er entkommen.

Zuerst hatte man ihn in der verschonten Metropole nicht beachtet, er war durch die vollen Straßen geirrt, war vor den Schaufenstern mit den Menschentrauben stehen geblieben und hatte ihre Schrecken geteilt, als die zerstörte Hauptstadt auf den Bildschirmen gezeigt wurde. Doch dann tauchte auch sein Foto unter den Bildern auf und er verließ die Stadt.

Ronald stolperte über eine Schwelle. Zwei Tage noch bis Boston, vielleicht drei.

Er hatte überlegt, ober sich stellen sollte, aber all die Fragen, die man ihm dann zumuten würde, er wollte sie noch nicht beantworten.

Stattdessen trieb ihn etwas nach Boston. Nein nicht etwas. Simone. Er wusste, dass sie tot sein musste, verdampft. So wie es auch für ihn vorgesehen gewesen war.

Und doch musste er Gewissheit haben. Musste den Krater selbst sehen, um zu glauben, dass er jetzt allein auf der Welt war.

Der Regen brannte in seinen Augen und er versuchte nicht zu reiben, das würde es nur noch schlimmer machen.

Simone war der Grund. Jedes Wort über die neue Weltordnung und den Anfang, den die Menschheit wieder einmal brauchte, hatte er ihr geglaubt.

Erst als es Klick machte und er nicht aufhörte zuexistieren begann Ronald sich zu fragen, ob sie einander nicht genug hätten sein können. Ob es ihre Aufgabe war, die Welt zu ändern.

Einem Moment blieb er auf einer Schwelle stehen und streckte die müden Füße. Durch den Schleier des Regens waren die ersten Lichter der Stadt zu sehen.

Ronald seufzte und trat herunter vom vorgezeichneten Weg der Gleise in das nasse Gras. Die Lichter im Augenwinkel, stapfte er durch die schlammigen Felder, die nie wieder einen Menschen ernähren würden.