Lucy

Lucy krachte durch das Dach und durchschlug die Decke zu einer Wohnung im Obergeschoss.

„Du kannst mich mal. Ich mach, was ich will.“ Sie schüttelte die Faust in Richtung Wolken, ordnete ihre Flügel und schaute sich in der Bude um.

Eine Studenten-WG. Sie war mitten auf der Wohnzimmercouch gelandet - die war jetzt platt. Es hatte gerade niemand darauf gesessen. Die drei Bewohner der WG standen mit Chips und Bier im Türrahmen und starrten den Engel an.

„Hi, Leute. Tut mir Leid mit der Couch.“ Sie schaute durch das Dach. „Das mit der Decke auch. Darf ich ein paar Chips, hab bestimmt seit tausend Jahren nichts mehr gegessen.“

Die drei Studenten starrten mit großen Augen und offenen Mündern.

„Was?“ Krunsch. Krunsch. „Noch nie 'nen Engel gesehen?“ Lucy streckte einen Flügel und bedeckte damit ihre Brust. „In Sodom sind wir alle so rumgelaufen, da hat niemand nachgeguckt - war auch irgendwie langweilig.“ -  „Hey, habt ihr Kabelfernsehen?“ Lucy nickte in Richtung Fernseher. „Ich hab' Satellit. Die kommen nämlich mit dem Kabel nicht so hoch.“

Ein Student bewegte den Mund, schluckte, aber brachte kein Wort heraus.

„Darf ich das Bier haben - Danke.“ Lucy zog die Flasche aus seinen Händen und schnippte den Deckel von der Flasche. Gluck. „Lecker. Nicht so eine Brühe früher.“ Gluck. Gluck. Sie leerte die Flasche.

„Hört mal Jungs, habt Ihr vielleicht Hemd und Hose für mich.“ Lucy drehte sich um und öffnete eine Tür. Die Gesichter der Studenten folgten ihr, wie Sonnenblumen dem Zentralgestirn.

Richtig geraten, das war ein Schlafzimmer. Einige Klamotten lagen auf dem Boden, aber Lucy suchte sich lieber etwas aus dem Schrank. „Gut, dass ihr keine Togen tragt. Konnte die Fetzen nicht ausstehen. Da waren mir ehrlich die Tierfelle noch lieber.“ Sie zog eine Jeans über, rollte die zu langen Beine auf und fand ein Seil um die Hose auf den Hüften zu halten. Dann faltete Lucy die Flügel ein und warf ein kariertes Hemd über, welches sie um den Bauch verknotete.

„So Leute. Ich muss weiter.“ Sie stellte die leere Bierflasche auf der Kommode ab, dann deutete sie auf das Loch in der Decke. „Sagt der Versicherung einfach das war eine Naturgewalt.“

Sie stopfte sich noch eine Hand voll Chips in den Mund und verließ mit offenem Mund kauend und krümelnd die Bude.

Als Lucy das Treppenhaus betrat, hatten die Studenten die Begegnung schon vergessen. Engel hinterließen einen gewaltigen, aber keinen bleibenden Eindruck. Mal abgesehen vom Mobiliar.

Auf der Straße verursachte Sie einen Verkehrsunfall, weil sich die Leute nach ihr umdrehten. „Hey, Mensch.“ Sie griff sich einen der Vorbeigehenden. „Kutschen ohne Pferde find' ich cool. Hätte schon viel früher mal vorbeischauen sollen.“

Der Mann schluckte den Sabber, der ihm nicht aus dem Mundwinkel tropfte hinunter und brabbelte etwas Unverständliches. „Hoppla. Ich dreh den Charm mal ein bisschen runter, sonst kriegste noch 'ne Rückenmarkserweichung.“ Sie tippte an ihre Schläfe. „Darf nicht vergessen, dass Ihr Menschlein das Denken verlernt, wenn ihr Engel seht.“

„Heirate mich. Ich verlass meine Frau und Kinder für Dich. Willst Du mit mir schlafen?“

„Einen Moment.“ Sie hielt den Mann am ausgestreckten Arm auf Distanz. „So. Versuchs jetzt nochmal.“

„Wer? Was bist Du?“

„Na, das hört sich schon besser an. Mein Name ist Lucy, alle Tausend Jahre muss ich mir mal etwas die Füße vertreten. All das Halleluja wird nach 'ner Zeit einfach Öde.“

Der Mann nickte. Der Mann schüttelte den Kopf. Dann ging er weiter. Drei Schritte die Straße hinunter, hatte er die Begegnung vergessen.

„Puff,“ sagte der Dämon.

„Sind Dir die Spezialeffekte ausgegangen.“ lachte Lucy.

„Budgetkürzungen,“ erklärte der Dämon verlegen. „Ich soll ausrichten, dein Vater will nicht schon wieder seine Heerschar hinter Dir herschicken.“ Er drehte sich nach den Menschen um, die sich ansammelten und die beiden anstarrten. „Geht weiter. Ihr habt hier nichts gesehen.“

Die Menschen gingen weiter und hatten nichts gesehen.

„Wir sollten ein paar Schritte gehen.“ Lucy folgte dem Dämon zögernd in eine Seitenstraße. „Dein Vater hat Onkel Satan gebeten, Dich zurückzuschicken. Und der Auftrag ist an mir hängen geblieben.“

„Heul doch.“

„Zick nich' rum. Du weißt, was Du für ein Chaos anrichtest, wenn Du unter Menschen weilst. Erinnerst Du Dich nicht an Gomorrha.“

Lucy lächelte, verträumt in der Erinnerung schwelgend. Dann sah sie auf den Dämon herab. „Da hat Papi völlig überreagiert. Ich hab vom Hinternversohlen eine Woche nicht auf meiner Wolke sitzen können.“ Lucy versuchte ihren Augenaufschlag bei dem Dämon, aber der war dafür unempfindlich.

„Und vor knapp tausend Jahren. Was war da?“

„Ich habe von Urban nie verlangt, dass er für Papa irgendein Fleckchen Erde erobern soll. Ich meinte nur, die hätten da schöne Strände gehabt, als ich das letzte Mal in der Gegend war.“

„Schluss damit. Ich bringe Dich jetzt nach Haus.“

„Kannste vergessen.“ Lucy ließ das Hemd von den Schultern gleiten, knotete es um die Hüfte wieder fest, entfaltete die Flügel zu einer Spannweite von 7 Metern und kratzte mit den Spitzen den Putz von den Wänden, als sie sich in die Luft erhob. Der Sog hätte den Dämon fast von den Beinen gefegt.

„Das gilt nicht.“ Schrie der hinter ihr her und stampfte wütend mit einem Huf auf den Boden.

Lucy lachte und machte eine Runde über dem Haus, bevor sie nach Süden, Richtung Innenstadt flog. Sie wäre fast mit einem Hubschrauber kollidiert, konnte aber gerade noch ausweichen. Mit Mühe brachte der Pilot die Maschine wieder unter Kontrolle.

„Hoppla. Sorry, meine Schuld. Ich sollte schauen, wohin ich fliege,“ rief Lucy zurück.

"Da ist man gerade ein paar Minuten auf der Erde un d schon sind himmel und Hölle in Bewegung, um einen wieder zurück zu bringen. So'n Schiet." klagte Lucy.

„Und mit anderen Engeln kann man einfach keinen Spaß haben.“

Sie drehte sich im Flug auf den Rücken. Sie verschränkte Arme und Beine und ließ sich von der Brise tragen. „Die sind alle so prüde da und tun so heilig, als ob sie was Besseres wären. Ich will doch nur ein bisschen Spaß.“

Sie drehte sich wieder um und machte ein paar Schläge mit den weißen Schwingen, nachdem sie die ersten Funkmasten auf den Hochhäusern umgemäht hatte.

Kurz darauf setzte Lucy auf der Straße auf. Ein schwarzer Mercedes kam mit quietschenden Reifen schleudernd vor ihr zum Stehen. „Pass doch auf. Du Idiot.“ fauchte Lucy den Fahrer an und schob den Wagen mit dem Fuß von sich fort. Er dreht sich einmal und fand sich dann auf der Gegenfahrbahn wieder. Lucy stapfte davon und hinterließ Fußabdrücke im Asphalt. Ein paar Schaufenster klirrten, als sie vorbeiging.

„Na das hört sich doch schon viel besser an.“ Lucys Stimmung hob sich wieder, als sie sich einer Disco näherte. Die hämmernde Musik schien direkt in ihre Beine zu gehen.

„In diesem Aufzug kommen Sie hier nicht rein.“ wollte der Türsteher sie aufhalten, aber weiter kam er nicht. Lucy ließ ihren Blick kurz an Hemd und Jeans zu den nackten Füßen gleiten.

„Büüütte.“ hauchte Sie und der Türsteher musste nach dem Türrahmen greifen, weil seine Knie plötzlich weich wurden. Lucy drehte den Charm wieder runter, aber erst nachdem sie sich an der Kasse einen freien Eintritt erschnorrt hatte und nicht so weit, dass ihr Besuch keinen Spaß mehr gemacht hätte.

Lucy wirbelte über die Tanzfläche, fegte sie mehrmals mit den Flügeln leer, wenn es zu voll wurde oder Lucy einfach nicht an die Menschen dachte, die ebenfalls tanzen wollten. Die Männer gaben ihr Bier aus. Die Frauen lagen ihr zu Füßen.

„Schön, dass ihr Spaß habt.“ flüsterte Lucy. Sie streichelte ein junges Mädchen, das sich neben sie an die Bar gesetzt hatte und sich an sie schmiegte.

Lucy beobachtete, wie zwei andere Frauen sich über einen Mann hermachten, und genoss es, wie ein Kerl an ihrer Jeans rumfummelte.

„Puff.“

„Spielverderber.“

„Menschen zu Orgien anzustiften verstößt gegen das Stilhalteabkommen zwischen Himmel und Hölle von 1520 AD, § 231 Absatz 3,“ hielt ihr der Dämon vor.

„Wer denkt sich denn sowas aus?“

Lucys Stimmung war schon wieder am absacken. Die Menschen zogen verlegen die Hosen wieder hoch. Lucy schaute zur Decke und spannte die Muskeln in den Flügeln.

„Vergiss das. Durch Stahlbeton kommst auch Du nicht.“

„Verdammt.“