Die Weisheit der Ziegen

Pakh Dingh saß auf dem Dach des Fernzugs von Delhi nach Lhasa und versuchte seine Gelassenheit wiederzufinden.

Er zupfte das orange Gewand zurecht und strich sich mir der Hand immer wieder über die Glatze. Nie im Leben hatte er eine solche Verzweiflung verspürt.

„Ach da bist du.“

Die blonden Haare der Touristin wehten im Fahrtwind, während sie ihn breit grinsend ansah. Pakh Dingh hätte sich am liebsten vom Zug gestürzt.

„Oh Gott, oh Gott, ist das alles authentisch hier.“ Sie schubste die anderen Reisenden beiseite und klatschte neben dem Mönch auf das Waggondach.

Nach Lhasa wollte sie, hatte die Frau vorgestern gesagt, als sie Pakh hilflos und verloren auf der Plattform des Bahnhofs erschienen war.

Und die letzten zwei Tage waren die längsten, die Pakh in seinem gerade 20-jährigen Leben durchleben musste.

„Guck, der hat eine Ziege auf dem Arm.“ Sie schlug ihm auf die Schulter und der Mönch zuckte zusammen. Prüfungen hatte er auf dem Weg zur Erleuchtung erwartet, aber nicht das hier.

„Ich liebe Tibet! Die Leute sind arm, sehen scheiße aus und stinken, aber sie haben immer ein Lächeln auf dem Lippen.“
Pakh knirschte mit den Zähnen. Das hatte Siddhartha doch nicht gemeint, als er von tätigem Mitgefühl sprach.

Er begann ein Mantra zu brummen, während ihr unaufhaltsames Mundwerk jeden Baum und jede Kuh kommentierte, an denen sie vorbeizogen.

Nach fünf Stunden erreichten sie die Grenze zu Tibet - der Mönch mit glühenden Ohren. Heimlich betete er, dass ihr Visum nicht gültig sein, oder ihr Pass abgelaufen.

Aber die Zöllner lächelten die weiße Fremde nur versonnen an, stempelten ihre Papiere und ließen sie ins Land.

Pakh ballte die Fäuste, während er an der Reihe war und sie schon seine Heimat mit ihrer Anwesenheit besudelte.

Kleinen Kindern kniff sie in die Wange, alten Männern warf sie Münzen in die Teetassen.

„Warum so betrübt mein Junge?“, sprach ihn eine Ziege an.

Pakh sah zweimal hin, aber das Tier lächelte nur, während es auf seine Antwort wartete.

„Die Frau,“ setzte er an, denn es war besser mit dem Bock zu sprechen, als die Wut weiter in sich hinein zu fressen. „Diese Frau, sie treibt mich in den Wahnsinn.“

Die Ziege legte den Kopf auf die Seite.

„Du weißt, was ich meine.“

Die Ziege wartete.

„Sie tut so, als ob ihr das Land gehörte. Zeigt keinen Respekt für meine Leute oder unsere Kultur.“

„Und das macht dich Sauer?“

„Ja. Als Gast sollte sie doch etwas mehr Ehrfurcht zeigen.“

„Und du?“

„Ich?“

„Liebst du dein Land, oder schämst du dich für deine Leute? Hast du dieser Frau deine Liebe für unsere Kultur gezeigt?“

Pakh Dingh zögerte, dann nickte er und ganz langsam kehrte das Lächeln auf seine Lippen zurück.

„Aber eine Nervensäge ist sie trotzdem“, meckerte die Ziege und verschwand in der Menschenmenge.