Erika, Teil 1 - Razzia

Erika starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe auf das Gebäude am Ende der Straße. Von außen war es ein Reihenhaus, wie jedes andere.
Der Frost ließ die Straßen glitzern und die Straßenbeleuchtung war gerade angegangen. Sie hielt den Pappbecher zwischen beiden Händen, obwohl der bittere Kaffee schon lange nicht mehr heiß war.
„Du hast hier nichts verloren. Baby“, sagte Frank, ohne sie anzusehen. Er war seit drei Wochen ihr Partner. „Das ist kein Job für Kinder.“
Erika war 22 und kam frisch von der Polizeischule. Baby hieß sie in der Einheit vom ersten Tag an. Sie hatte nichts dazu gesagt und keine Beschwerde eingereicht. Zu groß waren die Bedenken, dann in der Gruppe nicht bestehen zu können.
Wie alt Frank war, wusste sie nicht, aber sie hätte auf Mitte 50 geschätzt, wenn man sie gefragt hätte. Niemand in der Einheit fragte sie. Erika war die einzige Frau unter fünf Männern, alle älter und erfahrener.
„Is mir scheiß Egal, ob Du `nen Psycho-sonstwas Lehrgang gemacht hast. Frischlinge wie Du passen nicht zu uns.“
Sie schaute zu Frank herüber und machte den Mund auf, und wollte zum vierten Mal erklären, dass sie das Training zur Polizeipsychologischen Beraterin gemacht hatte, um mit traumatisierten Frauen umgehen zu können.
„Schnauze!“ befahl Frank. „Der Boss will, dass Du mit uns arbeitest. Ich sage, das ist ein Fehler.“ Er schaut auf die Uhr. „Noch zehn Minuten.“ Dann wieder in Erikas Augen, sie senkte schnell den Blick und musterte den Deckel des Kaffeebechers.
„Wenn wir da rein gehen, hältst Du Dich hinter mir. Ich will Dich nicht hören und nicht sehen. Vielleicht lernst Du ja, wie man sowas in der wirklichen Welt macht.“
Erika nickte langsam. Sie war es, die um die Versetzung zur Sitte gebeten hatte. Sie wollte ihre Ausbildung einbringen, einen Unterschied machen.
Die Zeit verstrich unendlich langsam. Männer gingen in das Haus und andere kamen wieder heraus. Erika zitterte, es war kalt im Auto, nachdem sie das Bordell schon über zwei Stunden beobachten.
Frank nahm sein Funkgerät. „Seid ihr in Stellung?“ fragte er.
Nacheinander kamen die Rückmeldungen von den anderen Teammitgliedern und den Streifenwagen, die sie heute unterstützen würden.
„Zivileinheiten vorrücken. Alle anderen: Straße sperren, sobald wir drin sind. Heute geht uns hier niemand durch die Lappen.“
„Raus Baby. Und komm mir nicht in die Quere.“
Erika spürte das Gewicht der Waffe an der rechten Hüfte unter dem dicken Parka, als sie Frank in kurzem Abstand folgte. Sein breiter Rücken versperrte ihr die Sicht. Frank war mehr als einen Kopf größer als die junge Frau.
Es war nur eine Razzia dachte sie bei sich. Sie hatten einen Tipp gekommen, dass einige der Sexarbeiter, Frank würde diesen Begriff nie in den Mund nehmen, minderjährig waren.
Erika trat etwas zur Seite, um an Frank vorbeisehen zu können. Horst und Lars kamen ihnen entgegen, sie würden sich vor der Tür treffen. Am Hintereingang standen wahrscheinlich schon Norbert und Günter. Sie würden den Fluchtweg abschneiden. Die Streifenpolizisten sollten alle Freier einsammeln, die trotzdem entwischen wollten, zum Beispiel durch die Fenster. Bei der Vorbesprechung war Erika beeindruckt gewesen. Franks Einsatzteam kannte das Prozedere. Sie hatten Routine darin.
Frank klopfte an die Tür. Mit der anderen Hand schob er Erika in seinen Schatten. Kaum bewegte sich die Tür stieß Frank sie mit Kraft auf. Ein Schmerzensschrei ertönte und die Frau, die an die Tür gekommen war, sackte mit blutiger Nase hinter der Tür zusammen.
Erika blieb geschockt stehen und starrte auf die Frau und das Blut, das ihr über Mund und Bluse lief. Frank riss sie weiter. „Nicht gaffen. Mitkommen.“
„Das können Sie nicht machen“, sagte Erika.
Frank drehte sich um und schleuderte sie gegen die Wand des Flurs. Mit der rechten drückte er Erikas Schulter schmerzhaft gegen die Mauer und beugte sich runter, bis seine Nase fast Erikas berührte. „Hast Du was gesagt?“ sagte er langsam.
Erika hielt seinem Blick einen Moment stand, dann schaute sie den Gang hinunter, die ersten Türen flogen auf und Köpfe schauten heraus. Das Geschrei ging los und das Team und die Uniformierten stürmten ins Haus. Erika blieb noch einen Moment stehen, als Franks sie los ließ. Polizisten stürmten an ihr vorbei. Dann folgte sie Frank eine Treppe nach oben, in den zweiten Stock.
Sie kam dazu, als Frank einen Mann am Kragen hielt, der gerade aus dem Fenster springen wollte. „Das hätt’ ich gern gesehen, dass die Sanitäter Dich vom Pflaster kratzen.“ Er stieß den Mann zurück in Zimmer. „Handschellen und abführen, Erika!“, befahl er.
Erika nahm einen Kabelbinder aus der Tasche und legte sie dem Mann an. „Sie sind vorläufig festgenommen, zur Aufnahme der Personalien und zur Befragung in Zusammenhang mit illegaler Prostitution.“ Erklärte sie, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatte. Aus den Augenwinkeln sah sie Frank den Kopf schütteln, aber er gab keinen Kommentar ab.
Das Bordell war ein Chaos. Rufe, Schreie und dazwischen die Polizei in Zivil und in Uniform. Sie brachte ihren Fang zum Polizeibus, der inzwischen vorgefahren war. Protestierende Freier und Huren standen in einer Schlange davor und wurden einer nach dem anderen verladen. Passenten waren stehen geblieben und beobachteten das Spektakel. Erika stellte sich hinten an.
„War das der Letzte?“ fragte der Fahrer, als sie die Gittertür wieder schloss.
„Ich glaub’ schon. Aber ich geh’ wieder rein und schau nach,“ erklärte sie.
Tatsächlich war es in dem Bordell still geworden, nur die Leute von der Spurensicherung in ihren weißen Overalls begegneten der Polizistin.
Erika kontrollierte einen Raum nach dem anderen. Bis sie wieder im Flur des zweiten Stocks ankam. Auf dem letzten Absatz der Treppe blieb sie überrascht stehen. Frank stand da, mit einem Mann, graue Haare, gepflegtes Äußeres, keine besonderen Kennzeichen, aber irgendwo hatte Erika das Gesicht schon gesehen.
Frank stecke einen Umschlag in die Innentasche seiner Jacke. „Hinterausgang. Norbert und Günter …“ begann er, dann entdeckte er Erika. Er nickte in Richtung Treppe und der Fremde drückte sich an Erika vorbei und lief die Stufen hinab. Die Polizistin erstarrte, als Frank auf sie zukam. Der Blick unverwandt auf sie gerichtet. Sie dachte an Flucht, aber ihre Beine wollten sich nicht bewegen. Die Hand Franks schloss sich um ihren Hals und er drückte zu. „Du hast hier nichts gesehen“. Sagte er leise. „Du warst nicht einmal hier.“ Das Blut rauschte in Erikas Ohren, sie konnte nur in Franks blaue Augen schauen. Sie versuchte zu nicken, aber Frank drückte sie von unten gegen die Wand, dass ihre Füße kaum noch den Boden berührten, es gelang nicht. Ihr Puls raste, wie während der ganzen Razzia nicht. „Hast Du das verstanden?“
Erika machte den Mund auf und krächzte ein Ja. Ganz langsam ließ Frank sie wieder auf die Füße zurück, aber sie spürte nicht, dass die sie tragen würden. Sie zitterte am ganzen Körper.
Plötzlich hatte sie Franks Hand über dem Mund. „Still!“ befahl er. Erika versuchte, die Beine wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ihr Atem kam stoßweise und die Augen waren geweitet – Angst. Aber Frank fixierte einen Punkt an der Wand neben ihr.
Dann hörte sie es auch. Ein wimmern. Einen Moment dachte Erika, es käme von ihr selbst, aber dann erkannte sie, dass es seinen Ursprung hinter der Wand hatte, gegen die sie lehnte.
Frank ließ sie los und zog seine Waffe. „Zieh. Folge mir.“
Erika brauchte zwei versuche, um die Dienstwaffe aus dem Halfter zu befreien, dann folgte sie Frank in das angrenzende Zimmer. „Das Zimmer ist zu klein.“ Erklärte er und trat an einen Schrank an der Wand. Mit der freien Hand packte er das Regal weit oben und warf es um. Erika konnte gerade noch beiseite springen, bevor es zu Boden krachte. Eine Tür war dahinter.
Erika brachte ihre Pistole in Anschlag und gab Frank Deckung, als der die Tür eintrat. Der Raum war voll von Mädchen, alle zwischen 15 und 20 vielleicht, Asiatinnen, osteuropäische und dunkelhäutige Mädchen. Acht, zählte Erika, keine einzige von ihnen ohne einen blauen Flecken.
„Waffe runter Erika. Hol die Sanis.“ Frank musste sich zwei mal wiederholen, bevor sie gehorchte und hinausstürmte.