Kristall aus Eis und Vergessen

„Schau,“ sagte Farn der Fuchs und stupste mit der Schnauze gegen den umgestürzten Baumstamm.
Nim ließ das goldene Herbstblatt sinken, welchen sie aufgehoben hatte, und sah sich nach dem Fuchs um. Zwischen Daumen und Zeigefinger ließ sie das Blatt rotieren.

Der Herbst hatte bereits die gelben und roten Blätter von den Bäumen gefegt und in der Abendsonne leuchtete der Waldboden in den gefallenen Farben. Nur wenige Vögel streiften die tief hängenden Wolken, viele waren bereits vor dem Winter geflohen.

„Komm Farn“, antworte Nim. „Onkel Born wartet im Palast auf uns. Wir müssen zurück.“ Sie zog an der Leine, die der Fuchs um den Hals trug, aber das Tier stemmte sich mit den Füßen in den Untergrund und schob mit den Pfoten einige Blätter beiseite.

Widerwillig machte das Mädchen einen Schritt auf den Fuchs zu. „Man wartet auf uns.“ Sie wollte nicht wieder den Zorn des Onkels auf sich ziehen, denn sie spürte ihn noch auf Fingern und Rücken, wenn sie an ihre letzte Verfehlung dachte. Dann sah sie das Funkeln des Kristalls.

„Was ist das denn?“, fragte sie und der Fuchs sah das Mädchen mit großen Augen an.
Es war wie geschliffenes Glas, als sie den Gegenstand in der Hand drehte. Vor der tief stehenden Sonne glaubte sie, Schemen und Schatten darin zu erkennen. Zwei Augen starrten sie an und Nim ließ den Kristall erschrocken fallen.

„Schön“, sagte der Fuchs.

„Böse!“, antwortete Nim.

Sie versuchte dem Fuchs fortzuziehen, aber der nahm den Kristall ins Maul und wollte ihn mitnehmen. Nimm griff nach dem Ding. Sie wollte es dem Fuchs wegnehmen und fortschleudern, aber das eigenwillige Tier ließ nicht los, so sehr sie auch zerrte.

Mit einem male löste sich der Griff des Tieres und Nim stolperte zurück. Das Mädchen taumelte gegen einen Baum.

„Nim!“, rief der Fuchs, dann wurde die Welt schwarz.

Als das Mädchen die Augen aufschlug, war nur weiß um sie herum. So weit das Auge reichte war die Welt von Eis und Schnee bedeckt. Es fröstelte sie unter dem dünnen Mantel, obwohl die Sonne hoch über dem Land stand.

„Hilf mir,“ hörte sie eine Stimme hinter sich. Da saß ein Mann auf einem Fels. Er musste einige Jahre älter sein, als Nim. Sein Kinn war stoppelig und die Haare begannen, von seiner Stirn zurückzuweichen.

„Wer bist du?“, fragte das Mädchen und meinte die Antwort zu kennen, aber sie war nicht zu greifen.

„Das habe ich vergessen.“

„Ist dir kalt?“, sie sah ihn zittern und seine Haut war schon ganz blau. Sie gab ihm den Mantel und schlang selbst die Arme um den eigenen Körper, um sich warmzuhalten.

Der Fremde wollte sich erst wehren, gegen ihre Gunst, aber sie bestand darauf.

„Danke. Wie ist dein Name?“ Er zog den Stoff fest um die Schultern, aber der Mantel war trotzdem zu klein für seinen breiten Rücken. Sie sah ihn an und etwas rührte sich in ihrem Herzen, es war nur zu tief vergraben und kam nicht heraus ins Licht.

Das Mädchen zögerte einen Moment, bevor sie antwortete.

„Ich weiß es nicht mehr.“ Und ihr traten die Tränen in die Augen. Sie war sich sicher, vor einem Augenblick hatte sie ihn noch gekannt.

„Erinnerst du dich, woher du gekommen bist?“, fragte der Mann. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sie wollte, dass er nie wieder losließ.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Dann wischte sie sich entschlossen die Tränen aus den Augen und stampfte mit dem Fuß auf. Dies war nicht die Zeit für Trauer, nicht für Angst. 

„Es ist bestimmt dieser Ort,“ sagte sie, „der uns vergessen macht.“

Der Mann nickte und sah sie lange an, während sie sich umsah. Aber zu sehen gab es nichts.
„Wohin?“ wollte der Fremde wissen. „In jeder Richtung ist nur noch mehr Eis und Schnee. Seit Tagen laufe ich und habe das Gefühl ich drehte mich im Kreis.“

Sie streckte den Arm aus. Der Mann hob fragend die Augenbrauen.

„Diese Richtung ist so gut wie jede andere. Dorthin gehen wir,“ entschied sie und nahm seine Hand. Die war so groß, dass ihre kleinen Finger nur drei von den seinen umfassen konnten. Und dann stapfte das Mädchen entschlossen voran.

Die Bewegung tat ihr gut. Sie fühlte sich weniger ängstlich, jetzt, wo sie ein Ziel hatte.

Sie wanderten lange und die Kälte kroch ihr in die Glieder. Der Mann wollte ihr den Mantel zurückgeben, aber sie schüttelte den Kopf. Er sah noch immer so viel erfrorener aus, als sie sich fühlte.

Die Sonne stand bereits niedrig über dem Land, als sie an eine breite Gletscherspalte kamen. Tief unten war der nackte Fels zu sehen und neben einem großen Findling eine Hütte, durch deren Fenster ein Lichtschein nach außen drang.

„Woher wusstest du?“, erkundigte sich der Mann, während er sich vorsichtig über den Abgrund beugte. Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Ich bin nur meinen Füßen gefolgt,“ sagte sie und begann die Spalte hinabzuklettern.

Schon nach wenigen Metern brannte jeder Griff in die eisige Wand wie Nadeln in ihren Fingern und sie glaubte nicht die Kraft zu haben, den Weg fortzusetzen. Und trotzdem kletterte sie weiter zum Felsgrund.

Sie standen vor der Hütte. Es war ein windschiefer Bau aus dicken Stämmen, aber schon das Licht aus den Fenstern ließ das Mädchen weniger heftig zittern.

„Kommt schnell herein,“ bat der junge Mann, welcher ihnen die Tür öffnete. Er trug ein Fell um die Schultern und seine roten Haare glänzten im Licht des Kamins hinter ihm.

Wie gezogen bewegten sich die Frierenden zu dem lodernden Feuer und ließen sich auf dem Baumstamm nieder, der wie eine Bank vor der Feuerstelle lag. Das Mädchen lockerte ihren Griff um die Finger des Mannes erst, als sie die Wärme der Flammen in ihrem Gesicht spürte.

Das Mädchen rieb die Hände und zuerst war es, als würde sie die Finger selbst ins Feuer halten, so brannte ihre Haut. Aber dann kam das Gefühl zurück und sie konnte die Wärme genießen, die ganz langsam in ihren Körper zurückkehrte. Sie spürte, wie der Gastgeber ihr eine Decke um die Schultern legte, und nickte dankbar. Neben sich sah sie das Leben und die Farbe auch in ihren Begleiter zurückkehren.

„Ich wusste, du würdest ihn finden und herbringen. Ich bin sehr stolz auf dich,“ sagte der junge Mann und ließ sich neben ihnen nieder.

Sie sah ihn an, aber sie vertraute ihrem Kiefer nicht die Worte zu sprechen, die ihr auf der Zunge lagen, zu tief steckte die Kälte noch in ihren Knochen. Aber ganz langsam schmolzen die Mauern um ihre Erinnerungen in den Flammen des Kamins.

„Ich weiß, du hast viele Fragen Nim, aber ich habe nicht die Zeit sie zu beantworten. Glaube mir. Ich bin dein Freund und ihr beide müsst jetzt zurück.“

Sie schauderte, weil er sie bei einem Namen genannt hatte, der gleichzeitig so vertraut schien und doch so völlig fremd war. Beinahe schon zum Greifen nah aber so weit weg, wie am anderen Ende der Welt. Und ihr graute davor, wieder in die Kälte hinaus zu gehen. Sie wünschte, der Rotschopf würde nicht in Rätseln sprechen, sie fühlte sich bereits verloren genug.

„Es muss sein.“

Der Junge zog sie und den Fremden auf die Beine und brachte sie zur Tür.

„Können wir nicht bleiben, nur noch ein wenig länger?“, fragte der Mann, aber er bekam nur ein Kopfschütteln zur Antwort. Seine Worte aber ließen Nims Herz auflodern und sie wusste, dass sie ihn kannte, dass er ihr nahe gewesen war.

„Ich habe mir diese Zeit nur geborgt und wir werden besser nicht entdeckt.“ Mit den Worten öffnete der die Tür und schob die beiden hinaus aus der Hütte.

Nim zwinkerte mit den Augen. Sie stand wieder im Wald bei dem Baumstamm. Die Sonne war kaum tiefer gesunken, währen sie so viele Stunden gefroren hatten waren hier nur Augen blicke vergangen.

„Nim!“, hörte sie die Stimme des Mannes hinter sich und erkannte sie wieder.

„Vater!“, rief sie und wirbelte herum. Mit starken Armen hob der König seine Tochter in die Höhe und drückte sie an die Brust.

Nim schossen die Tränen in die Augen. „Ich dachte, du wärst …“ Sie vergrub ihren Kopf in seiner Schulter.

„Nein, meine Prinzessin.“ Mit der Hand nahm er dem Mädchen den Kristall aus der Hand und zerschmetterte ihn am einem Baum.

Mit langen Schritten machte er sich auf den Weg zu seinem Palast, mit Nim auf dem Arm, als wäre sie gar keine Last für ihn.

„Dein Bruder.“ Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, als wollte sie nie wieder loslassen.
„Ich weiß. Alles weiß ich wieder.“ Er sah sich um. „Schon Herbst? Sind sechs Monate vergangen.“
„Und zwei Jahre.“

Der Vater strich seiner Tochter mit der Hand über die Haare und nickte. „Ja, so muss es sein,“ seufzte er. „Du bist groß geworden, aber ich hatte gehofft, meine Augen würden sich irren.“
Nim schniefte glücklich und traurig zugleich. „Die Wachen folgen dem Befehl deines Bruders.“
„Nein, sie folgen nur dem Mann, den sie für den König halten,“ antwortete der Vater. „Aber ich weiß, wer loyal zu mir steht und ich nehme mir mein Reich jetzt zurück. Danke Nim, das du mich geführt hast, als ich verloren war.“

Hinter ihnen, zwischen den Bäumen verborgen, schaute ein rothaariger Fuchs den beiden nach - und lächelte.