Erika, Teil 4 - Auflösung

Erika spürte ihren Körper nicht mehr, nur noch Schmerzen, weil sie sich nicht bewegen konnte. Sie hatte keine Vorstellung, wie lange sie unterwegs waren. Stunden. Eine. Zehn. Ihr war schlecht vom Dieselgestank und gleichzeitig war ihr Mund trocken, weil sie nicht genug getrunken hatte.
Sie wollte Lara sagen, dass Hilfe unterwegs war, aber der Knebel ließ das nicht zu und über dem Brummen des Motors konnte sie Lara nicht einmal mehr weinen hören.
Sie musste sich zwingen daran zu denken, dass sie gebraucht wurde. Das sie sie auf diese Tortur eingelassen hatte, um die Frauen zu retten, die Richtertochter.
Nach einer Weile dachte Erika gar nicht mehr an Lara oder an die anderen Frauen, die ihr noch ferner waren, ihre Gedanken fingen an, um sie selbst zu kreisen, um die Gliedmaßen, die eingeschlafen waren, kribbelten und sich anfühlten, als würde sie absterben.
Erika ertappte sich, dass sie dachte, sterben wäre in Ordnung, wenn es nur aufhören würde weh zu tun.
Irgendwann dachte Sie gar nicht mehr. Hin und wieder tauchte sie aus dem Nebel der Benommenheit auf und dann wieder ab. Alles war Schmerz. Kein Unterschied mehr zwischen Ohnmacht und Wachen.
Dann hielt der Lieferwagen an.
Erika landete auf einer Matratze aber sie wusste nicht, wie sie dahin gekommen war. Sie übergab sich, aber es war nur ein Würgen, weil sie nichts im Magen hatte. Der Bauch tat weh und sie glaubte, ersticken zu müssen. Jemand hielt ihre Haare und sie spürte eine Hand auf dem Rücken, die Berührung war sanft, aber für Erika brannte sie wie Feuer.
Als sie vom Würgen ganz benommen war, schlief Erika ein – mehr Ohnmacht als Schlaf.
Als sie wieder aufwachte, sah sie durch verschleierte Augen das Zimmer, einfache Bettgestelle aus Stahl. Matratzen und alte Decken. Eine junge Frau saß an ihrer Bettkannte. Zwei andere auf anderen Betten, eine hockte in der Ecke des Raumes mit angezogenen Knien und sie wiegte unablässig den Oberkörper vor und zurück. Erika blinzelte und langsam klärte sich der Blick.
Ein der anderen Frauen im Bett gegenüber war Lara, sie schien zu schlafen. Jemand hatte sie zugedeckt, wie Erika auch.
„Wo bin ich hier?“ fragte Erika, aber ihre Stimme war so rau und heiser, dass sie sich selbst kaum verstand. Jedes Körperteil kribbelte, aber die Schmerzen ließen langsam nach.
Die Frau an ihrem Bett sagte etwas in einer fremden Sprache es hätte genauso gut russisch, wie polnisch sein können, in Erikas Ohren. Dann hielt sie einen Becher an Erikas Lippen und Erika nahm etwas Wasser, sogar das Schlucken war anstrengend und tat weh. Sie verschluckte sich und hustete.
Erst als sie es geschafft hatte ein paar Tropfen herunter zu bekommen merkte Erika, dass ihre Kleidung fort war. Sie schaute unter die Decke. Ein altes abgewetztes T-Shirt hatte man ihr angezogen und eine Jogginghose. So etwas trugen auch die anderen Frauen hier.
Erika ließ sich zurück ins Bett fallen, die alten Federn quietschten. An der gelben Decke waren Wasserflecken. Hätte man den Ohrknopf entdeckt, dann wäre sie sicher nicht hier, sondern tot.
Die Frau an ihrem Bett sagte etwas, dann stand sie auf, schaute kurz nach Lara und setzte sich dann zu dem Mädchen in die Ecke. Sie streichelte ihr über den Rücken, aber es hörte nicht auf unablässig vor und zurück zu wippen.
Natürlich. Man hatte man ihre Sachen weggeworfen, nach Stunden in dem Versteck des Lieferwagens. Sie erinnerte sich wage, dass sie sich eingenässt hatte, vielleicht mehr. Es war alles verschwommen.
Erika griff nach der dem Emailbecher mit dem Wasser neben dem Bett. Der Becher war dreckig und das Wasser braun, aber sie nahm trotzdem einen Schluck und noch einen.
Ihr wurde schwindelig, als sie sich aufsetzte und sie wartete ein paar Minuten auf der Bettkannte, bevor ihr Kreislauf sich beruhigt hatte und sie wagte aufzustehen. Ihre beine zitterten, die Gelenkte brannten bei jedem Schritt und sie musste sich mit der Hand an der Wand abstützen. Der Weg zum Fenster schien Kilometer lang zu sein. Aber einen Fuß nach dem Anderen erreichte sie es.
Zeitung war davor geklebt worden, aber es gab einige Löcher, wo die anderen Frauen schon Teile herausgerissen hatten. Erika schaute hinaus. Es waren Gitter vor dem Fenster. Kalte Luft zog zwischen den Ritzen des Rahmens herein. Draußen war eine Stadt. Graue Ziegel, schmutzige Straßen. Sie befanden sich in der dritten oder vierten Etage. Ein Industriegebiet, wenn die Hallen und Schornsteine ein Anhaltspunkt waren. Menschen sah sie keine.
Sie hörte, wie die Tür hinter ihr aufgeschlossen wurde. Plötzlich war es ganz still im Zimmer, als ob jede Frau den Atem anhalten würde. Erika dreht sich um. Alle Köpfe waren gesenkt, keine der Frauen wollte den Mann ansehen, der in der Tür stand.
Und die Augen des Mannes bohrten sich in Erikas Gesicht. Sie waren Hart, sein ganzes Gesicht, wie Stein so unbewegt. Er kam auf sie zu. Er packte Erika mit der Hand an ihrem Arm. Er hielt sie so fest, dass Erika schrie vor Schmerz und Wut. Sie trat nach ihm, aber er gab ihr mit der anderen Hand eine Ohrfeige, dass Erikas Kopf zur Seite geschleudert wurde, sie spürte, wie die Wirbel im hals dabei knackten, dann erst fing die Wange an zu brennen.
Sein zweiter Schlag, diesmal mit der geballten Faust, ging in Erikas Magen. Sie krümmte sich aber sie wehrte sich nicht mehr.
Die anderen Frauen schauten nach unten, auf den Fußboden, nur nicht zu Erika und dem Mann. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
Er schleifte sie in einen anderen Raum und vergewaltigte Erika.

Erika hockte auf ihrem Bett, mit dem Rücken an der Wand und hatte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Der Magen tat weh und ihr ganzer Unterleib. Die Blutflecken waren auf der dreckigen Jogginghose kaum zu sehen.
Erika fühlte sich, als ob sie heulen müsste, aber sie konnte nicht. Sie war wütend, dass Frank sie nicht gerettet hatte. Sie hasste ihn mehr als die drei Männer, die sie gerade nach einander missbraucht hatten. Sie starrte geradeaus gegen die Wand und presste die Lippen aufeinander.
Vor dem Fenster ließ das Licht langsam nach.

Plötzlich Polizeisirenen.
Rufen und Schreien in fremder Sprache.
Schüsse.
Uniformierte stoßen die Tür auf, mit Maschinenpistolen im Anschlag. Nur ein kurzer Blick über die Frauen. Einige Worte in ein Funkgerät, dann sind sie wieder fort. Weitere Türen werden aufgestoßen oder gebrochen.
„Erika.“ Frank steht im Türrahmen.
Sie schaut weg.
„Erika. Es ist vorbei!“